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Protest vor dem Berliner Abgeordnetenhaus am 16. SeptemberJens Kalaene/dpa

Die Zukunft für Adriana Balboa ist ungewiss. Das ist leider nichts Neues. Ihr ganzes Berufsleben war die Musikschullehrerin nur als Honorarkraft beschäftigt. Ihre Arbeit war immer unsicher und immer schlechter bezahlt als die ihrer festangestellten Kolleg*innen. Und dass, obwohl die studierte Gitarrenpädagogin seit über 25 Jahren an der gleichen staatlichen Berliner Musikschule, mit gleichbleibendem Arbeitsumfang und identischem Unterrichtsauftrag wie ihre festangestellten Kolleg*innen arbeitet. Aber nun steht für die 58-Jährige alles auf der Kippe. Und sie weiß nicht, ob sie nächsten Monat überhaupt noch Arbeit hat – nicht einmal ihre prekäre.

Wie Adriana Balboa bangen momentan rund 1.830 Berliner Honorarlehrkräfte um ihre Jobs. Denn infolge des Herrenberg-Urteils des Bundessozialgerichts 2022, das für die Tätigkeit von Musikschullehrkräften grundsätzlich eine Sozialversicherungspflicht feststellt, hat sich die Rechtslage verändert. Die Spitzenorganisa- tionen der Sozialversicherungsverbände haben ihre Prüfkriterien zum 1. Juli 2023 entsprechend angepasst. Honorarverträge für regelmäßig beschäftigte Musikschullehrkräfte sind damit nicht mehr möglich. Bundesweit begannen daraufhin Musikschulen die Honorarverträge ihrer Lehrkräfte in Festanstellungen umzuwandeln, mittlerweile sind 76 Prozent aller Lehrer*innen an den staatlichen Musikschulen fest angestellt.

Nicht so in Berlin. Trotz der neuen Rechtslage sind an den zwölf bezirklichen Musik­schulen – genau wie vor dem Urteil – immer noch 77 Prozent der Lehrenden Honorarkräfte. Obwohl die meisten von ihnen arbeitnehmerähnlich beschäftigt sind und ihr Haupteinkommen über die Musikschule beziehen. Wie auch Anna-Katharina Schau. Die Musikerin unterrichtet seit vier Jahren Akkordeon an zwei Berliner Musikschulen und findet die Haltung Berlins „völlig unverständlich“. Jedes Bundesland handelt „und hier passiert nichts, und dass obwohl sich Berlin als Kulturhauptstadt präsentiert.“ Es sei „als ob sich Berlin regelrecht sträubt, uns richtig zu bezahlen.“

Vom Land Berlin im Stich gelassen

Auf die Problemlage machen der Landes­musikrat und ver.di seit Monaten aufmerksam – mit Pressekonferenzen, Demonstrationen, Kundgebungen. Bei einem Protest im Juni, bei dem sich hunderte Musikschullehrer*innen, unterstützt von Eltern und Schüler*innen, ­wieder einmal vor dem Berliner Abgeordnetenhaus versammeln und die Absicherung ihrer Arbeitsverhältnisse und damit den Erhalt des Unterrichtsangebots fordern, stellt Kultursenator Joe Chialo (CDU) erstmals Lösungen in Aussicht. Er verspricht „Festanstellungen für alle, die wollen“, bittet aber um etwas Zeit. 20 Millionen Euro würde die Festanstellung das Land Berlin kosten. Diese Mittel wären im Haushalt bislang aber nicht eingeplant.

Im Juli, wenige Tage vor Ferienbeginn, beschließen das Bundesministerium für ­Arbeit und Soziales und die Deutsche Rentenversicherung (DRV) ein Moratorium: Bis zum 15. Oktober setzt die DRV bundesweit die Prüfverfahren aus. Für Chialo erfüllt sich damit der Wunsch nach mehr Zeit, für die Honorarlehrkräfte bedeutet der Aufschub, mit Existenzsorgen in die 6-wöchige Sommerpause gehen zu müssen.

Die Unsicherheit bleibt auch nach den ­Ferien. Viele Honorarkräfte ­haben lediglich Aufträge bis zum Ende des laufenden Schuljahres erhalten, teilweise mit einer Klausel, die die Ergebnisse weiterer Verhandlungen als Sonderkündigungsgrund festlegt. In einigen Musikschulen wurden keine neuen Honorarverträge abgeschlossen und keine neuen Schüler aufgenommen. Die ohnehin ellen­langen Wartelisten auf einen Platz in der Musikschule wachsen weiter. Für die rund 60.000 Kinder und Jugendlichen, die an den Berliner Musikschulen unterrichtet werden, drohen Einschränkungen, sogar Kündigungen von bestehenden Schülerverträgen. Eltern und Kinder seien besorgt, erzählt Anna-Katharina Schau. Die meisten könnten sich Privatunterricht nicht leisten.

Auf der Podiumsdiskussion „Musik und Stadt“ des Landesmusikrats am 9. September, zu der die junge Musikschullehrerin – neben Vertretern aus der Berliner Politik und ver.di – eingeladen ist, erzählt sie, wie es ihr und ihren Kolleg*innen geht: „Wir fühlen uns perspektivlos und im Stich gelassen. Wir machen 77 Prozent der Musikschule aus, wir tragen die Musikschulen. Dass wir derartig auf die Wartebank geschoben werden, macht wahnsinnig unglücklich.“ Josef Holzhauser, Leiter der Musikschule Charlottenburg-Wilmersdorf, berichtet, dass auch sein Kollegium „unglaublich verunsichert“ sei. „Da hängen Familien dran, Existenzen. Da sind Lehrkräfte, die seit 35 Jahren an Musikschulen hervorragende Arbeit leisten. Und diese Lehrkräfte haben sichere Beschäftigungsverhältnisse verdient.“

Der eingeladene CDU-Abgeordnete Dennis Haustein, Mitglied im Kulturausschuss, zeigt Verständnis, beharrt aber auf den wenige Tage zuvor veröffentlichen Vorschlag einer schrittweisen Festanstellung bis 2028, beginnend in diesem Jahr mit 10 bis 15 Prozent. „Das ist keine rechtlich haltbare Variante“, so Andreas Köhn von der ver.di-Fachgruppe Musik Berlin-Brandenburg. „Man kann nicht sagen, die Rechtsstaatlichkeit findet in Berlin nicht statt, weil wir kein Geld dafür haben.“ Der Senat müsse die notwen­digen finanziellen Mittel zur Verfügung stellen.

Erste Kündigungen

Die Künstlersozialkasse KSK hat inzwischen Prüfungen begonnen: ersten Lehrkräften wurde mitgeteilt, dass sie aufgrund der neuen Kriterien als abhängig beschäftigt gelten, auch wenn sie einen Honorarvertrag mit einer Musikschule ­haben. Die Anteile der Sozialversicherungsbeiträge, die bislang die KSK übernommen hat, müssen sie künftig selbst zahlen. Andere Lehrkräften, deren Status­feststellungsverfahren schon durch die DRV positiv beschieden wurde, die also als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte eingestuft sind, haben die Kündigung ihres Rahmenvertrages erhalten. ver.di ist bereits eingeschaltet.

Bis zum Ende des Moratoriums am 15. Oktober muss eine Entscheidung ­fallen. Für die Honorarlehrkräfte eine ­quälende Zeit. „Dieser Beruf ist mein ­Leben“, sagt Adriana Balboa. „Ich weiß nicht, was ich sonst machen soll.“ Gewerkschafter Andreas Köhn verspricht: „Wenn jetzt keine Umwandlung der ­Honorarverträge in Festanstellungen erfolgt, werden wir klagen!“