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Wenn einem die Arbeit über den Kopf wächst, kann eine Sucht die ­Ursache seinFoto: Viktor Solomin/Stocksy United

ver.di publik: Kiffen am Arbeitsplatz, ist das derzeit ein großes Thema für Arbeitgeber?

Lindner: Nein, eigentlich nicht wirklich. Die Legalisierung setzt das Kiffen im Prinzip auf ein ähnliches Niveau wie das ­Alkoholtrinken. Dafür gibt es ja mittlerweile in fast allen Unternehmen mit Betriebsräten Betriebsvereinbarungen und überall dort, wo mit Maschinen oder mit Menschen gearbeitet wird, ist das sowieso ausgeschlossen.

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Matthias Lindner, Betriebsrat bei ver.di und Mitglied des Arbeitsschutzausschussesprivat

Wir beobachten allerdings einen Anstieg fast aller Suchtarten, insbesondere seit Beginn der Corona-Pandemie. Die Zahl der Raucherinnen und Raucher in Deutschland ist deutlich gestiegen. Derzeit rauchen fast 38 Prozent der Menschen ab 14 Jahren, während es vor der Pandemie noch rund 27 Prozent waren. Auch der Alkoholkonsum hat in den vergangenen Jahren um 4,5 Prozent zugenommen. Insgesamt sind laut Hochrechnungen etwa 1,4 Millionen Menschen in Deutschland von ärztlich diagnostiziertem Alkoholmissbrauch betroffen.

Wird der Konsum von Cannabis durch die Legalisierung stark ansteigen?

Der Konsum von Cannabis war in Deutschland bereits vor der Legalisierung weit verbreitet. 2021 haben etwa 4,5 Millionen Erwachsene in den letzten 12 Monaten mindestens einmal Cannabis konsumiert, was 10,7 Prozent der Männer und 6,8 Prozent der Frauen ausmacht. Statistisch gesehen kifft einer von acht Beschäftigten regelmäßig. Es ist jedoch wichtig zu unterscheiden, ob es sich um Sucht handelt oder einfach um gelegentlichen Konsum.

Wie gehen Unternehmen mit diesem Anstieg um?

Für die Betriebsräte geht es in erster Linie nicht nur darum, wie man mit süchtigen Menschen umgeht, sondern vor allem darum, das Thema Suchtprävention im Auge zu behalten. Prävention ist ein Bereich, der stark an Bedeutung gewinnt, weil sie Teil des betrieblichen Gesundheitsschutzes ist. Dieser umfasst die ganze Palette von möglichen Suchterkrankungen, angefangen bei Arbeitssucht bis hin zu Medikamenten-, Alkohol- oder eben auch Drogenmissbrauch. In diesem Spektrum arbeiten auch die Krankenkassen und die Berufsgenossenschaften stark mit, um Angebote für Beschäftigte zu schaffen, damit sie gar nicht erst in eine Sucht geraten.

Das heißt also, das Arbeitsumfeld so zu gestalten, dass man gar nicht in eine Sucht rutscht?

Genau. Das beginnt bei der Qualifikation von Führungspersonen, die Sensibilität entwickeln und proaktiv handeln sollten, wenn ihnen bei Beschäftigten etwas auffällt. Wichtig ist, dass die Arbeitgeber*in ihre Verantwortung anerkennt, denn ­Arbeit kann ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung von Suchterkrankungen sein. Aspekte wie die Arbeitsmenge, das Arbeitsumfeld und das Führungsverhalten können entscheidende Auslöser für Sucht sein. Wenn ein Vorgesetzter feststellt, dass sich das Arbeits- oder Sozialverhalten bestimmter Beschäftigter verändert hat, darf das niemals ignoriert werden. Wenn also Anzeichen wie ­glasige Augen oder verminderte Arbeitsleistung auftreten, sollten diese proaktiv angesprochen werden. Forschungsergebnisse zeigen, dass dies ein sehr wichtiger Schritt in der Prävention ist. Schon das Ansprechen dieser Themen kann ein erster Schritt sein, um eine Verschlimmerung hin zur Sucht zu verhindern.

Und wenn ich den Verdacht habe, dass mein Kollege möglicherweise ein Suchtproblem hat, soll ich dann direkt auf ihn zugehen, oder welches wäre der beste Weg, das anzusprechen?

Der direkte Weg ist der beste. Suchtprobleme sind stark stigmatisiert und oft mit viel Scham verbunden. Daher könnte es kontraproduktiv sein, das Problem ­sofort im Kollegenkreis öffentlich zu ­machen. Ich würde empfehlen, zunächst ein Vier-Augen-Gespräch zu suchen, in dem man die Person darauf hinweist: „Mir ist etwas aufgefallen, und wenn es noch einmal vorkommt, werde ich es melden.“ Den Menschen hilft es nicht, wenn ihre Probleme ignoriert werden. Das kennen wir auch von Co-Alkoholiker*innen, also Partnern von Abhängigen, die jahrelang ein problematisches System stützen. Das kann nicht im Sinne der Betroffenen sein. Als Kolleginnen und Kollegen oder auch als Arbeit­geber*innen sollten wir nicht in die ­gleiche Rolle verfallen.

Wie geht man als Betriebsrat oder Vorgesetzter mit einem Verdachtsfall um?

Es ist wichtig, mit der Arbeitgeber*in eine Betriebsvereinbarung zum Thema Sucht abzuschließen. Solche Vereinbarungen folgen oft einem Phasenmodell. Bei ver.di haben wir eine solche Verein­barung mit sechs Phasen. In der ersten Phase, bei Verdacht, findet ein Vier-­Augen-Gespräch zwischen der Vorgesetzten und der betroffenen Arbeitnehmer*in statt. Bei weiterer Auffälligkeit folgt ein zweites Gespräch unter Ein­beziehung eines Betriebsrats. In diesen Gesprächen werden Maßnahmen zur Prävention vereinbart oder die Betroffenen werden motiviert, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Das Ziel ist also, die Person aus der Sucht herauszuholen?

Genau, es geht darum, die Person engmaschig zu begleiten, nach dem Prinzip: Wir achten auf dich, wir kümmern uns um dich. Aber es gibt auch Konsequenzen, wenn die Person keine Selbstverantwortung übernimmt. Oft gehen Menschen erst dann in die Heilung, wenn sie Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Das muss durch entsprechende Maßnahmen unterstützt werden.

Wenn man merkt, dass man selbst gefährdet ist, zum Beispiel durch regelmäßigen Alkoholkonsum während der Arbeit, was kann man tun?

Bei ver.di gibt es für Beschäftigte das Angebot des Betriebsärztlichen Dienstes, BAD, den man rund um die Uhr anonym unter der Nummer 0800/72 35 323 erreichen kann. Diese spezielle Telefonnummer ermöglicht es dem BAD, zu erkennen, dass der Anruf von ver.di kommt, ohne dass der Name genannt werden muss. Dort erhält man Beratung in allen Lebenslagen, sei es im Zusammenhang mit der Arbeit oder privat. Der BAD wird von den Berufsgenossenschaften finanziert und ist eine anerkannte Institution. Sie bieten auch Unterstützung, wenn es schwierig ist, einen Therapieplatz zu bekommen, zum Beispiel durch Überbrückungsangebote oder Hilfe bei der Suche nach einem geeigneten Platz.

Eine weitere Phase ist außerdem – wie bei häufiger oder längerer Krankheit – eine betriebliche Eingliederung. Ein gutes, strukturiertes betriebliches Eingliederungsmanagement ist ein wichtiger Teil der Suchtprävention. Dabei wird mit den betroffenen Personen gesprochen, um herauszufinden, ob die Gründe für ihre Krankheit im Zusammenhang mit der Arbeit stehen. Ziel ist es, die Arbeitsbedingungen so anzupassen, dass die betroffenen Personen langfristig gesund bleiben.

Was ist, wenn es im Unternehmen noch keine Betriebsvereinbarung dazu gibt?

Beschäftigte können sich an ihren Betriebsrat wenden. Informationen, wie eine solche Vereinbarung aussehen kann, gibt es auf der ver.di-Webseite oder bei der Hans-Böckler-Stiftung. Der Betriebsrat kann dann das Thema in die Verhandlungen einbringen und ein System etablieren.