Die Ukraine nähert sich dem 1000. Tag des groß angelegten Krieges, den Russland am 24. Februar 2022 begonnen hat. Die Herausforderungen, die mein Land in dieser Zeit bewältigt hat, lassen sich mit nichts anderem vergleichen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass der Krieg seit 2014 andauert, also nicht 1.000, sondern schon mehr als 3.650 Tage. Vor der größten existenziellen Herausforderung stehen heute, abgesehen von der russischen Aggression, die Menschen, die in der Ukraine leben und leben werden, wenn der Krieg endlich beendet ist. Die Menschen werden gebraucht, um das Land zu entwickeln, um sicherzustellen, dass die Ukraine als Staat weiter existiert.

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Olha VorozhbytFoto: privat

Gleichzeitig sind seit Beginn des Krieges mehr als 6,7 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, die meisten davon Frauen und Kinder. In diesem Jahr steht die Ukraine bei der Geburtenrate weltweit an letzter Stelle, während sie bei der Sterblichkeit weltweit führend ist. All dies zwingt die Behörden dazu, zumindest nach Lösungen zu suchen. 

Anfang Oktober hat die Regierung eine Strategie für die demografische Entwicklung bis zum Jahr 2040 verabschiedet. ­Eines der strategischen Ziele besteht darin, den Arbeitsmarkt zu aktivieren, indem möglichst viele Menschen, die arbeiten können, eingestellt werden. Die Situation hinsichtlich der Verfügbarkeit von Arbeitskräften wird von Tag zu Tag komplizierter. In allen Branchen fehlen Arbeitskräfte, die Arbeitslosenquote ist mit 14 Prozent nach wie vor recht hoch (allerdings: 2022 lag sie noch bei 21 Prozent). Dahinter steckt eine strukturelle ­Arbeitslosigkeit, bei der die Arbeitslosen zwar Arbeit suchen, aber ihre Qualifikationen für eine bestimmte Tätigkeit nicht ausreichen.

Arbeitsplätze für alle

Der ukrainische Think-Tank Easybusiness hat vor kurzem eine Studie veröffentlicht, aus der klar hervorgeht, dass die Ukraine durch eine stärkere Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen und ­Binnenvertriebenen in den Arbeitsmarkt in der Lage sein wird, den Arbeitskräftemangel auf dem Arbeitsmarkt zumindest teilweise zu beheben. 

Heute gibt es in der Ukraine fast 3 Millionen Menschen mit Behinderungen. Nach Angaben des Ausschusses für Sozialpolitik des Ukrainisches Parlaments waren im Jahr 2023 jedoch nur 14,8 Prozent der ukrainischen Bürger mit Behinderungen beschäftigt. In der EU sind es dagegen über 50 Prozent. Die Gründe für diesen Unterschied sind vielfältig und reichen von der mangelnden Bereitschaft der Arbeitgeber, Menschen mit Behinderungen einzustellen, über Sozialleistungen, die sie nicht zur Arbeit motivieren, bis hin zu Barrieren im öffentlichen Raum und am Arbeitsplatz. Trotz einiger Versuche, vor allem letzteres Problem anzugehen, ist die Infrastruktur der ukrainischen Städte überhaupt nicht für Menschen mit Behinderungen (und auch für Mütter mit Kindern im Kinderwagen, hier spreche ich aus persönlicher Erfahrung) geeignet. 

Derzeit haben zudem 3,7 Millionen Ukrainer den Status von Binnenvertriebenen, aber nur 40 Prozent der Binnenvertriebenen sind beschäftigt oder haben ein ­eigenes Unternehmen. Eine der größten Herausforderungen für diese Gruppe ist laut der Easybusiness-Studie die Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen des ­Arbeitsmarktes und den Fähigkeiten und Interessen der Binnenvertriebenen. 

All dies deutet darauf hin, dass sich die Regierung stärker für die Umschulung und Höherqualifizierung von Beschäftigten verschiedener Kategorien engagieren muss. Ja, das braucht Zeit, aber es ist ­eine langfristige Investition. Die Situation in Bezug auf die Infrastruktur und den Zugang zu Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderungen ist komplizierter, aber hierbei könnte die Ukraine von der Unterstützung von Partnern mit viel mehr Erfahrung in diesem Bereich profitieren.