Ausgabe 07/2024
Musik
V.A.: Wolf Biermann Re:Imagined
Vielleicht ist Wolf Biermann ja doch ein Rocker. Oder sogar ein Rapper? Nicht musikalisch: Der berühmteste Dissident der DDR war in seiner großen Zeit in den 70er- und 80er-Jahren eher berühmt für eckiges, aber akustisches Gitarrenspiel und kantige Poesie. Aber wenn man auf Wolf Biermann Re:Imagined – Lieder Für Jetzt! seine alten Songs einmal ganz neu interpretiert hört von einer Auswahl aktueller deutscher Künstler*innen, dann kann man tatsächlich auf die Idee kommen: Die Haltung passte damals nicht so recht zum Sound.
War der 1936 geborene Biermann doch nicht der typische Liedermacher, wie man ihn damals kannte, egal ob in Ost oder West. Er war kein zweifelnder Barde, der seine Gefühle abwog, kein Grübler. Biermann war selbstbewusst, wütend, klar und eindeutig, und ja, auch breitbeinig und besserwisserisch, natürlich höchst poetisch, aber gern eben auch provokativ. Und wurde denn auch 1976 ausgebürgert von der DDR. Auf jeden Fall hat er, der auf der Bühne eher den Stinkefinger zeigte als sich an der Stirn zu kratzen, diese Ausbürgerung zwar bedauert. Getragen aber hat er sie wie eine Auszeichnung. Und fremdelte auch mit dem anderen Deutschland, in das er zwangseingewiesen worden war.
Das alles ist lange her, aber Wolf Biermann Re:Imagined führt noch einmal vor Augen, dass seine Texte, aber überraschenderweise auch die Melodien hervorragend für wütende Protestsongs und schmachtende Balladen geeignet sind. Das beweisen auf dieser Zusammenstellung von Coverversionen eine spannende Auswahl von Interpret*innen, von der TV-Entertainerin Ina Müller bis zum Kölsch-Rocker Wolfgang
Niedecken, vom deutschen Rap-Pionier Torch bis zum Art-Pop-Geheimtipp Balbina, vom Nachwuchs-Rocker Betterov bis zum nun auch nicht mehr ganz so jungen Milden Maxim. Jedem gelingt es, in Erinnerung zu rufen, welche Kraft und politische Wucht Biermanns Worte hatten und heute noch haben können: Die Chansonette Annett Louisan schafft es, die durchaus blutige Revolutions-Phantasie „So soll es sein – so wird es sein“ mit einem Schafspelz zu verkleiden, während die Rapperin Haiyti die Stasi-Ballade „Am Alex an der Weltzeituhr“ in eine universelle und damit aktuelle Erzählung von Verrat und Enttäuschung verwandelt. So unterschiedlich alle Neuinterpretationen musikalisch sein mögen, alle zeigen sie, wie zeitgemäß Biermanns Worte bis heute geblieben sind, allen voran die Ermutigung von 1968: „Du, lass dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit.“ Thomas Winkler
Clouds Hill/Warner
Chicuelo & Marco Mezquida: Del Alma
Der Flamenco, einst eine Regionalmusik aus Spaniens andalusischem Süden, hat eine erstaunliche Evolution erlebt. Nicht nur Elemente aus afrikanischer, lateinamerikanischer, arabischer Musik und dem Jazz bereichern ihn. Auch das Instrumentarium hat sich erweitert. Neben Bass, Bläsern und Streichern spielt vor allem das Klavier eine immer prominentere Rolle. Gitarrist Juan Gómez (Künstlername „Chicuelo“) und Pianist Marco Mezquida zeigen, welche stilistische Vielfalt und Qualität das Genre inzwischen erreicht hat. Dieses Duo aus der quirligen Musikszene Barcelonas spielt einen Flamenco, der fernab eingefahrener Gleise verläuft. Eine Spätfolge der von Paco de Lucía Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre ausgelösten Flamenco-Erneuerung. Spanische Pianisten wie Mezquida sind von der emotionalen Kraft dieser Musik und ihrer rhythmischen Spannung derart begeistert, dass sie Elemente des Flamencos und Effekte der Gitarre aufs Piano übertragen haben. Die Langzeit-Love-Story zwischen Flamenco und Jazz-Improvisation, hier ist sie auf der Höhe der Zeit. Peter Rixen
CD Galileo
$oho Bani: Ein Schritt und ich fall
Nicht erst seit den letzten Wahlen fragt sich das Land: Was machen die bloß, diese jungen Leute? Ein paar Antworten immerhin findet man bei $oho Bani. Der Musiker ist aufgewachsen im Berliner Wedding, also in einem sogenannten Brennpunktbezirk, und in den Songs seines neuen Albums „Ein Schritt und ich fall“ gibt er über wütend bollernden Beats denen einen Stimme, die sich zwischen digitaler Vereinsamung und gesellschaftlichem Rechtsruck fragen, was werden soll, aber leider bloß feststellen: „Ich glaub, ich kann nur verlieren.“ Ja, die Lage ist hoffnungslos, Drogen helfen nur bedingt weiter, die Mieten sind unbezahlbar und am Schluss bleibt nur die Erkenntnis: „Leute, die ficken unsere Zukunft, sind fast schon tot.“ Gegen diese alten Männer jedweder Coleur aktiviert $oho Bani ausgerechnet einen weiteren alten Mann: „Zeit, dass sich was dreht“ basiert auf Herbert Grönemeyers Fußball-WM-Song von 2006. Das Lied stürmte schon im vergangenen Sommer an die Spitze der deutschen Charts – und jeder konnte hören, was sie so denken, die jungen Leute. Thomas Winkler
Epic/Sony