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2019 lebten noch beide Eltern der AutorinFoto: Christian Jungeblodt

Es war Anfang des Jahres 2024. Mein Vater klagte immer öfter über Husten und Rückenschmerzen, er fühlte sich abgeschlagen. Der Hausarzt versuchte mich zu beruhigen. Eine Coronainfektion kurz vor Weihnachten könne bei einem Mann über 80 schon mal länger nachwirken. Doch mein Bauchgefühl ließ mir diesmal keine Ruhe. Ich musste endlich das tun, was ich schon seit 2021 vor mir her­geschoben hatte: Mir die Pflegeheime ­persönlich ansehen, bei denen ich ihn vor über drei Jahren auf die Warteliste hatte setzen lassen. Wegen der coronabedingten ­Quarantäne konnte ich sie nicht gleich besichtigen.

Damals musste ich handeln, denn es zeichnete sich ab, dass mein Vater und meine Mutter nicht mehr lange zusammen in einer Wohnung klarkommen würden. Er konnte nicht mit ihrem zunehmenden geistigen und körperlichen Verfall umgehen. Die Frau, die sich über 50 Jahre um ihn gekümmert, den Haushalt gemacht und jeden Morgen für ihn Kleidung zurechtgelegt hatte, konnte nicht mehr? Unmöglich! „Die simuliert doch nur“, sagte er oft.

Ich hatte ihn gleich mit auf die Wartelisten der Pflegeheime setzen lassen, aber eher an betreutes Wohnen gedacht. Durch Zufall fand ich für meine Mutter im Frühjahr 2021 recht schnell eine Bleibe. Der Pflegedienst, der meine Eltern schon eine Weile in ihrer Wohnung betreute, betrieb eine Wohngemeinschaft (WG) in der Seniorenwohnanlage, in der sie seit sechs Jahren lebten – und dort war ein Zimmer frei. Bekannte Betreuer*innen, vertraute Umgebung – meine Mutter fühlte sich sofort wohl, alles passte. Ich musste allerdings nicht nur ein neues Zimmer einrichten, sondern mich auch durch ein neues Sachgebiet fragen: Wie finanziert man die Betreuung in einer WG?

Meine Eltern nach 55 Jahren räumlich zu trennen, war nicht leicht für mich, aber notwendig. Daher habe ich diesen Schritt mit ihnen besprochen, aber nicht diskutiert. Das hatte ich zuvor mit dem Pflegedienst, mit Ärzt*innen, mit Verwandten, mit Freund*innen gemacht. Gerade als Einzelkind braucht man diese Hilfe, denn die Situation ist emotional belastend.

Meine Mutter hatte noch 15 umsorgte Monate in der WG. Wir sind oft spazieren gegangen – der Rollator wurde dazu gegen den Rollstuhl getauscht – wir haben ihre Fotoalben angesehen und an guten Tagen hat sie von früher erzählt.

Auf gutes Zureden einer Pflegerin, die viel Erfahrung in der Betreuung von Menschen am Lebensende und deren Angehörigen hat, trat ich im Sommer 2022 noch einen Kurzurlaub an. „Sie werden Ihre Kraft noch brauchen“, gab mir die Pflegerin mit auf den Weg. Sie hatte Recht.

Dann forderte die Krankheit meiner Mutter ihren Tribut. Nach dem letzten von vielen Demenz-Schüben stellte sie das Essen und Trinken ein und sagte, sie müsse zu ihrem jüngsten Bruder, der brauche sie jetzt. Der Bruder war aber schon seit ­einigen Jahren tot.

Meine Mutter hatte ihren Willen vor vielen Jahren in ihrer Patientenverfügung festgehalten. Darüber hatten wir damals lange diskutiert. Ich wusste, was sie von mir in ihren letzten Tagen erwartete: Für sie da sein, vorlesen, sie einschlafen lassen. Unterstützt von einem verständnisvollen Hausarzt und einem guten Pflegeteam. Diese Erfahrung macht mir Hoffnung, irgendwann an meinem ­Lebensende auch mitentscheiden zu können.

Auf einmal kann es sehr schnell gehen

Erspart blieb mir so eine weitere Entscheidung: Denn wenige Tage vor dem Tod meiner Mutter hatte ein anderer Pflegedienst die WG übernommen. Ein Team im Aufbau, um es vorsichtig zu sagen. Mit Beschäftigten, die noch nicht viel Deutsch konnten, die am Vormittag putzten, statt sich um die sieben Bewohner*innen zu kümmern, die verwirrt ob der Änderungen durch die Räume liefen.

Nicht nur das zeigte mir, dass es bei der Pflege der Eltern viele Unwägbarkeiten gibt, die man nicht planen kann. Man kann sich nur gut vorbereiten, am besten gemeinsam mit ihnen. Dazu zählen ­sicherlich Vollmachten, etwa für die Betreuung, Pflege, Rechtsgeschäfte oder die Patientenverfügung. Offen sollte auch darüber gesprochen werden, was an Unterstützung bis hin zur Pflege erwartet wird und geleistet werden kann. „Unterstützung ja, Pflege nein“, hatte ich ­meinen Eltern schon 2016 gesagt, bevor sie sich überhaupt entschieden, nach ­Berlin umzuziehen.

Doch die Grenzen sind fließend und haben mich in den Jahren an meine Grenzen gebracht. Vollzeitarbeit, Familie, pflegebedürftige Eltern und das Bedürfnis, auch mal etwas für mich selbst zu tun – ich habe viel gelernt über Selbstfürsorge, über Abgrenzung und über mich. Aber auch über Ansprüche auf verschiedene Leistungen, Anträge, Krankenkassen, Pflegegrade, und dass immer wieder überraschend neue Probleme auftauchen, große wie kleine.

So war es auch bei meinem Vater Anfang 2024. Nach mehreren Arztbesuchen musste er aus der Praxis mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden. Wasser in der Lunge. Schnell stand fest, dass er nicht mehr allein in seiner Wohnung bleiben konnte. Trotz Pflegedienst mehrmals am Tag, Tagespflege drei Mal in der Woche, Besuche durch mich an mindestens drei Wochentagen, Essen auf Rädern und der Betreuungs­angebote in der Wohnanlage hatten wir nicht verhindern können, dass er zu wenig trinkt und isst. Auch bei ihm hinterließ das Alter immer mehr Spuren im Gedächtnis. Er wollte morgens zur Arbeit gehen, nannte mich beim Namen seiner Schwester oder wartete abends auf seine Frau, die ihm das Essen bringt.

Schnell fand ich ein Zimmer in einem Pflegeheim für ihn, aber nur, weil er dort – wie eingangs erwähnt – schon drei Jahre auf der Liste stand. Ich kann allen betroffenen Angehörigen nur raten, sich frühzeitig nach Plätzen umzusehen, auch wenn man denkt, es dauert noch. Auf einmal kann es sehr schnell gehen. Dann ist ein Platz weit vorne auf der Warteliste hilfreich.

Mein Vater ist jetzt in einem ganz „normalem“ Heim untergebracht. Doch schon heute kann ich ziemlich genau ausrechnen, wann die Ersparnisse meiner Eltern aufgebraucht sein werden und wir zum Sozialamt müssen, um diesen Platz finanzieren zu können – und dass, obwohl mein Vater eine gute Pension bekommt.

Mein Vater wohnt dort jetzt seit einem halben Jahr und fühlt sich wohl: Ein Fernseher, regelmäßiges Essen, Gesellschaft, wenn ihm danach ist. Ich hingegen ­musste noch die alte Wohnung ausräumen. Gemeinsam mit meinem Sohn habe ich gesichtet, behalten und aussortiert, mit der Unterstützung von Freund*innen den Rest verschenkt oder entsorgt. Drei ­Monate haben wir gebraucht für das ganze gemeinsame Leben meiner Eltern, zumindest für das, was nach dem großen Umzug acht Jahre zuvor nach Berlin davon übriggeblieben war.

Doch Ruhe herrscht immer noch nicht. Gerade hat mein Vater seinen Hausarzt rausgeschmissen, und mir gesagt, er ­müsse sich in der Einrichtung nicht benehmen. Wenn sie ihm kündigten, müsse ich mich halt um etwas Neues für ihn ­kümmern.

Mir ist klar, auch ich werde älter und vielleicht irgendwann hilflos. Zuvor werde ich vieles mit meinem Sohn besprechen und regeln müssen. Wir alle sollten viel offener über diese Zeit reden.

*publik.verdi.de/ausgabe-201907/der-rollenwechsel