06_07_azubi_pflege_rodney_hamburg_02.jpg
Rodney Schalk, 23 Jahre, ist in seinem 3. Ausbildungsjahr zur Pflegefachperson und macht schon allesFotos: Mauricio Bustamante
06_07_azubi_pflege_rodney_hamburg_01.jpg
06_07_azubi_pflege_rodney_hamburg_03.jpg
06_07_azubi_pflege_rodney_hamburg_04.jpg
06_07_azubi_pflege_rodney_hamburg_05.jpg
Fotos: Mauricio Bustamante
06_07_azubi_pflege_rodney_hamburg_06.jpg
06_07_azubi_pflege_rodney_hamburg_07.jpg

Rodney Schalk läuft die Stufen zum Bahnsteig hinunter. Im Schein der Bahnhofs­lampen stehen die Wartenden, Mützen und Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen. Die ­Anzeige am Bahnsteig zeigt 5 Uhr 04, als die S-Bahn einfährt. Rodney lässt sich auf den Sitz fallen.

Rein in die Frühschicht

Um 6 Uhr beginnt die Frühschicht im Pflege­heim „An der Finkenau“. Hier, in einer der 13 Einrichtungen des Betreibers PFLEGEn & WOHNEN HAMBURG, lernt der 23-Jährige im dritten Jahr den Beruf der Pflegefachperson. Heute ist er im Wohnbereich 3 eingesetzt. Als Rodney den Flur betritt – nun in Dienstkleidung, weiße Hose und grauer ­Kittel –, liegt die Station im Halbdunkel. Die meisten der 60 Bewohnerinnen und Bewohner schlafen noch. Nur aus den Fenstern zum Dienstzimmer fällt helles Licht. Hier trinkt Rodney Schalk seinen ersten Kaffee. Wie jeden Morgen ein prüfender Blick zu den Kolleginnen. Der Auszubildende zählt leise durch: Sechs Kolleginnen sitzen da am Tisch, nur eine fehlt. Er atmet auf. „Wenn nur zwei krankgeschrieben sind, dann kannst du dir leicht ausrechnen, wie viel mehr Arbeit auf dich zukommt.“

Übergabe durch die Nachtschicht, dann verteilt Schichtleiterin Petra S. die Aufgaben. Um 6 Uhr 25 schwärmen die Pflegekräfte mit den Wagen voller Pflegematerialien in alle Gänge aus. Die ersten Bewohner sind wach, irgendwo läuft im Radio „Girls Like You“. Frau Hausmanns Zimmertür steht ­offen, die 83-Jährige ist Frühaufsteherin. Sie hat sich gewaschen und Unterwäsche und Rollkragenpullover übergezogen, nun liegt sie wartend auf dem Bett.

Rodney desinfiziert seine Hände. „Gut­­­­­­­­en Morgen, haben Sie gut geschlafen?“, fragt er. „Ach, wie immer, nicht so gut.“ – „Frau Hausmann, ich ziehe Ihnen nun die Kompressionsstrümpfe an.“ Mit festem Griff zieht Rodney die engen Strümpfe über die geschwollenen Knie der Frau bis zum Oberschenkel. „Passt das so?“ Er hilft ihr aus dem Bett bis zum Rollator. Die lange Hose hochgezogen und nun das Bett machen. „Sie wissen ja, zweimal falten, unten umschlagen, dann die gelbe Decke drüber“, sagt Frau Hausmann. Rodney führt die ­Anweisungen genau aus, Handgriff für Handgriff. Sie nickt zufrieden. „Machst du gut.“ Der junge Mann desinfiziert noch ­einmal seine Hände, als er das Zimmer wieder verlässt. „Bis später, Frau Hausmann.“

Ins kalte Wasser

„Die Zeit hat man ständig im Nacken“, sagt Rodney. Trotzdem versuche er sich Zeit für die Bewohner*innen zu nehmen. „Ich arbeite zügig, aber nicht eilig. Das wäre für sie ein doofes Gefühl.“ Frau Hausmann kennt er noch gut, er hat sie für seine Zwischenprüfung versorgt. Im ersten Ausbildungsjahr kümmern sich die Auszubildenden bei PFLEGEn & WOHNEN um fünf feste Bewohner. Bei ihnen lernen sie, die alten Menschen gut anzusprechen, sie zu waschen, ihre ­Position zu wechseln und Wunden zu versorgen. Anfangs, so erzählt Rodney, hatte er Berührungsängste, zum Beispiel bei der Intim­pflege. Gleich im Praktikum wurde er „ins kalte Wasser geworfen“, als er mit Kolleginnen mitlief und bei der Arbeit zuschaute. Irgendwann im ersten Lehrjahr hat seine Praxisanleiterin ihn ­gefragt, ob er sich’s nun selbst zutrauen würde. „Man gewöhnt sich ganz schnell.“

Zehn Minuten später hat Rodney eine weitere Bewohnerin gewaschen, die Kompressionsstrümpfe angelegt und die Tätigkeiten auf dem Smartphone dokumentiert. Die Uhr zeigt 6 Uhr 45. Nun beginnt die Rush-Hour in der Pflege. Während die ­Kolleginnen die übrigen Bewohner*innen waschen und auf das Frühstück vorbereiten, erwartet Schichtleiterin Petra S. den Auszubildenden bei den „Medi-Wagen“. In zwei rollbaren Schränken lagern sämt­liche Arzneimittel für diese Woche, von Blutdrucksenkern über Kopfschmerztabletten bis Abführmitteln. „Diese Medikamente ­müssen vor dem Frühstück eingenommen werden“, erklärt der Auszubildende.

Unter Petra S. wachsamen Blicken sortiert Rodney die Tabletten für 40 Bewohner in kleine Plastikbecher und ordnet sie auf ein Tablett dem jeweiligen Namen zu. Eine verantwortungsvolle Aufgabe, die nur Pflegefachkräfte ausführen dürfen. „Wir haben es oft geübt. Rodney ist fit im Kopf, solche Kollegen brauchen wir“, sagt die Schichtleiterin.

Zwei Stunden, 40 Zimmer

In den nächsten zwei Stunden steuert ­Rodney mit dem Medi-Wagen 40 Zimmer an. Er misst Blutzucker, bereitet die Insulinvergabe vor. Einigen Bewohnern stellt er die Medikamente auf den Nachttisch, bei anderen wartet er, bis sie diese hinuntergeschluckt haben. Wer das nicht mehr kann, dem zerstößt Rodney die Tabletten mit einem Mörser und löst sie in einer Trinkflasche auf.

Auf Gang A steht der Frühstückswagen, Pflegehelferin Irenka S. verteilt Tabletts mit Brötchen, Müsli und Obst. Vor dem Frühstück muss Rodney noch schnell zu Herrn Weiß. Der Palliativpatient ist neu auf der Station. Er hat noch keine Kompressionsstrümpfe, deshalb will Rodney die Beine wickeln. Der Mann stöhnt laut auf. „Ich ­habe Schmerzen im ganzen Körper. Wissen Sie, das bedrückt mich, diese ganze Situation“, keucht er. „Das glaube ich“, antwortet Rodney. „Schauen Sie, meine Kollegin bringt das Frühstück. Wie möchten Sie Ihren Kaffee?“ Er begleitet den gebückten Mann am Rollator zum Tisch und verlässt grüßend das Zimmer.

Schmerzen, Sterben und Tod gehört für Pflegekräfte zum Alltag. Damit komme er klar, sagt Rodney, denn „die alten Menschen haben ihr Leben gelebt.“ Trotzdem erinnert er sich noch genau an seinen ersten Notfall, der Mann verstarb trotz Reanimierung. Er kannte den Bewohner sehr gut und mochte ihn. „Hinterher haben die Kollegin und ich eine ganze Weile zusammengesessen und geschwiegen.“ Heute sei es ein Stück weit Gewohnheit. „Unsere Aufgabe ist es, ihnen die letzten Jahre ihres Lebens so schön wie möglich zu machen.“

„Die Kolleginnen und Kollegen übernehmen eine enorm wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Dennoch fehlt die Wertschätzung und sie ­arbeiten ständig an der Belastungsgrenze“
Kathrin Restorff, bei ver.di Hamburg für die Pflege­einrichtungen zuständig

Für junge Menschen sind dies schwere Themen. Dazu kommen Schichtdienst und zu niedrige Personalschlüssel. Die Pflegeberufe haben mehr als ein Imageproblem, auch weil über viele Jahre vor allem bei kommerziellen Betreibern schlecht bezahlt wurde. „Die Kolleginnen und Kollegen übernehmen eine enorm wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Dennoch fehlt die Wertschätzung und sie ­arbeiten ständig an der Belastungsgrenze“, sagt Kathrin Restorff, bei ver.di Hamburg für die Pflege­einrichtungen zuständig. „Das macht krank.“ Pflegekräfte gehören zu den Berufsgruppen mit dem höchsten Krankenstand. „Das müssen die Teams auffangen, denn auch wenn weniger Personal auf Station ist – die Arbeit bleibt dieselbe.“

Auszubildende berichteten ihr, dass sie bei Personalengpässen häufig einspringen müssten und keine verlässlichen Dienst­pläne haben. Dadurch leide die Ausbildung, denn es bleibe kaum Zeit für Praxisanleitung und eine gute Begleitung. „Sie übernehmen schnell eine hohe Verantwortung und fühlen sich überfordert.“ Die Folge ist eine hohe Abbrecherquote. Die politischen Rahmenbedingungen der Branche lassen sich nur mit Ausdauer und Hartnäckigkeit ändern, die Erfahrung macht ver.di immer wieder. Der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Andreas Haß, der sich bei dem Pflegeheimbetreiber in der ver.di-Tarifkommission ­engagiert, sagt, im Vergleich sei PFLEGEn & WOHNEN ein guter Arbeitgeber, der bemüht sei, die Beschäftigten zu entlasten. So konnte die ver.di-Tarifkommission im Juli in einem Tarifvertrag durchsetzen, dass die Arbeitszeit der rund 2.000 Beschäftigten um eine auf 38 Stunden pro Woche verkürzt wird. Ab 2025 gibt es für alle einen zusätzlichen „Gesundheitstag“ frei. Zudem erhalten alle ­Beschäftigten im Schichtdienst drei Tage Zusatzurlaub im Jahr. „Auch bei der Bezahlung der aktuell 24 Auszubildenden liegen wir im norddeutschen Raum an der Spitze.“ Das sei enorm wichtig, „denn als Pflegeeinrichtung konkurrieren wir um die Auszubildenden nicht nur untereinander, sondern auch mit den Krankenhäusern“, sagt Einrichtungsleiter Stefan Rautenberg-Segebrecht. Deshalb biete er den Auszubildenden bereits nach dem zweiten Lehrjahr einen Arbeitsvertrag an.

Kurz ein Schluck Kaffee

Im Radio läuft „Black or White“. Es ist 9 Uhr 05. In Wohnbereich 3 wird gefrühstückt. Während die Kolleginnen das ­Essen anreichen, sitzt Rodney im Dienstzimmer am PC. Kurz Luft holen, dann geht die Arbeit weiter. Er trinkt einen Schluck Kaffee und liest die Dokumentation von Herrn Weiß, dem Palliativpatienten. Pflegehelferin Kamilla setzt sich zu ihm. „Wie war’s?“ – „Die erste Runde ist geschafft. Ich muss einen Reparaturauftrag schreiben, der zweite Computer im Dienstzimmer fährt nicht hoch.“

Ein Piepsen unterbricht sie, irgendwo wird nach einer Pflegekraft verlangt. Ein Bewohner klopft an die Scheibe und fragt nach seinem Zimmerschlüssel, der Auszubildende verspricht sich zu kümmern. Aber erst zwei Anrufe bei Hausärzten, dann einen Krankentransport bestellen. „Neben den normalen Aufgaben kommen so viele kleine Sachen dazu.“ Manchmal sei es schwer, den Überblick zu behalten. „Wir sind Alles­macher.“

Eigentlich wusste Rodney, worauf er sich einließ. Seine Mutter arbeitet auch in der Pflege. „Sie ist immer kaputt, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt.“ Zur Pflege­ausbildung kam er über einen Umweg. Weil er mit Menschen arbeiten wollte, begann er nach der Schule zunächst eine Ausbildung im Einzelhandel, in einem Schuhhaus. Dann kam Corona, die Geschäfte wurden geschlossen. Er wollte etwas tun, nicht nur herumsitzen, und fand einen Job als Pflege­helfer. Nach sechs Monaten wusste er: „Das ist’s. Aber nur mit einer richtigen Ausbildung.“

Endlich Pause

Um 10 Uhr 30 kommt Rodney von seiner „Blutdruckrunde“. Endlich, die erste Pause. Er sitzt im Pausenraum und holt eine Frühstücksbox mit Nudelsalat und Sandwiches heraus, die er heute früh vorbereitet hat. „Wenn man wirklich Ruhe haben will, muss man sich hier verstecken.“ Während er isst, scrollt er auf seinem Handy durch seine Nachrichten.

Eine halbe Stunde später steht der Auszubildende wieder im Dienstzimmer am Medi-Wagen. Um 12 Uhr gibt es Mittag­essen, vorher müssen die Bewohner ihre Medikamente einnehmen. Linda S. hat die Tabletten bereits unter Aufsicht von Petra S. in die Plastikbecher sortiert. Die Auszubildende zur Pflegefachperson lernt am Universitätsklinikum und hat heute den ersten Tag ihres Einsatzes in der Langzeitpflege. Rodney führt sie durch die Station. Schichtleiterin Petra S. muss sie ­unterbrechen. „Rodney, schickst du bitte ein Fax an den Hausarzt von Herrn Oswald?“ Er nickt. ­Heute Morgen hat er festgestellt, dass der Bewohner seine Tabletten nicht mehr einnehmen will.

Durch die Gänge zieht der Duft nach Fleisch und Soße. Es ist Mittagszeit. Die Helferin am Essenswagen füllt Schnitzel, Soße und Kartoffeln auf. Rodneys Kolleginnen verschwinden mit den Tabletts in den Zimmern, um das Essen anzureichen. Währenddessen schieben die Auszubildenden den Wagen von Zimmer zu Zimmer, verteilen Medikamente.

Ein Notfall

Wieder ertönt ein Piepsen. Ein Notfall! Im Speiseraum hat eine Bewohnerin das Bewusstsein verloren. Der Notarzt wird gerufen. Pflegekräfte versorgen die Frau. Rodney stellt am PC das Notfallblatt zusammen mit den wichtigsten Informationen: die ­Anschriften von Arzt und Angehörigen, ­Allergien, aktuelle Medikamente. Schnell die Krankenkassenkarte aus dem Ordner und alles dem Notarzt übergeben.

„In den nächsten Jahren werden viele Kolleginnen und Kollegen in Rente gehen. Der Personal­mangel wird noch krasser. Das werden wir Jungen ausbaden müssen.“
Rodney Schalk, Pflegeauszubildender im 3. Ausbildungsjahr

Das Piepsen reißt mittlerweile kaum noch ab. Jetzt heißt es, einen klaren Kopf zu ­behalten. Was muss als nächstes erledigt werden, was hat Zeit für später? Rodney und seine Kolleginnen eilen im Laufschritt über die Gänge. Endlich heben die Sanitäter die Frau auf eine Trage und schieben sie zum Fahrstuhl.

Es ist 13 Uhr 45. Übergabe für die Spätschicht. Die Frühschicht sitzt im Dienstzimmer. Schweigend, mit müden Gesichtern. Rodneys Schrittzähler auf dem Handy zeigt 15.000 Schritte. Die Wohnbereichsleiterin, die jetzt Dienst hat, geht am PC die Dokumentation durch. „Frau Sonnemann wurde ins Krankenhaus gebracht. Notfall. Ist sie abgemeldet?“, fragt sie und blickt zu den Pflegekräften ­hinüber. „Hier wurde nichts dokumentiert. Rodney, übernimmst du das?“ Der nickt leicht.

Es ist 14 Uhr, Dienstschluss. Da fährt die Wohnbereichsleiterin fort: „Wir haben heute nur zwei Kolleginnen in der Spätschicht, eine ist krank, zwei auf Fortbildung. Ich möchte die Kollegen von der Frühschicht bitten, beim Kaffeeausschenken zu helfen.“ Als sie den Raum verlässt, bleiben alle noch einen Moment sitzen. Natürlich werden sie helfen. „Dein Team lässt du nicht allein“, sagt der Auszubildende.

Auch Rodney wurde ein Arbeitsvertrag für die Weiterbeschäftigung nach Ausbildungsende angeboten. Wird er unterschreiben? Er ist sich noch nicht sicher. Ihm gefällt die Arbeit in der Pflege. Doch die Arbeitsbelastung sei heute schon hoch. „In den nächsten Jahren werden viele Kolleginnen und Kollegen in Rente gehen. Der Personalmangel wird noch krasser. Das werden wir Jungen ausbaden müssen.“