Ausgabe 01/2025
Gelebte Realität
Michael Gleißner, Jahrgang 1935, blickt auf 75 Jahre Mitgliedschaft in der Gewerkschaft zurück. Sein Leben und Wirken spiegeln die Entwicklung der Arbeitswelt und der Arbeitnehmervertretung seit der Nachkriegszeit wider. Der gelernte Schriftsetzer erlebte als Kind die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und den schwierigen Wiederaufbau in seiner Heimatstadt Nürnberg.
Nürnberg liegt 1945 in Schutt und Asche. Noch bevor Gleißner an Schulabschluss oder Beruf denken konnte, musste er den zweiten Weltkrieg überleben, die fürchterliche Bombennacht des 2. Januar, nach der in seiner Heimatstadt über 1.800 Tote und 100.000 Obdachlose zu beklagen waren. Wie durch ein Wunder blieb das Wohnhaus seiner Familie im Stadtteil Gostenhof unversehrt. Diese prägenden Erlebnisse jedoch stärkten sein Durchhaltevermögen und seinen Gemeinschaftssinn, der später zu einem zentralen Bestandteil seines Engagements wurde.
1949 begann Gleißner seine berufliche Laufbahn bei den Nürnberger Nachrichten als Schriftsetzer. Seine erste Ausgabe, die die Ergebnisse der ersten Bundestagswahl dokumentierte, hängt heute als stolze Erinnerung in seinem Hobbykeller.
Die Arbeitsbedingungen waren damals hart: Die Setzer arbeiteten unter dem Dach des ehemaligen Gauhauses der NSDAP und mussten oft schwere Formen für Druckplatten transportieren. Trotz der Herausforderungen war die Solidarität unter den Beschäftigten und die Bindung zur Gewerkschaft stark. "Die Frage, ob man der Gewerkschaft beitreten wollte, stellte sich nicht", erinnert sich Gleißner. Man wurde Mitglied.
Bereits früh wechselte er in den renommierten Sebaldus-Verlag, wo er am berühmten Quelle-Katalog arbeitete und sich zum Maschinen- und Perforatorsetzer weiterbildete. 1961 kehrte er zu den Nürnberger Nachrichten zurück – ein Schritt, der für damalige Verhältnisse bemerkenswert war. Grund: akuter Personalmangel im Betrieb. Hier blieb er bis zu seiner Rente und prägte das Unternehmen maßgeblich mit.
Sein Engagement für die Kolleginnen und Kollegen begann 1975 mit seiner Wahl in den Betriebsrat. Mit der Überzeugung, dass Verantwortung zu übernehmen eine Frage des Charakters sei, übernahm er 1980 den Vorsitz des Gremiums. Während seiner 18 Jahre als Betriebsratsvorsitzender erlebte er sowohl Erfolge als auch Herausforderungen. Das Verhältnis zum Verleger Bruno Schnell beschreibt er als ambivalent: "Er hatte zwei extreme Seiten – er konnte großzügig sein, aber auch ungerecht."
Aktiver Gewerkschafter
Die Bedingungen für Betriebsräte waren zu seiner Zeit vergleichsweise günstig. Der Verlag war wirtschaftlich stabil, und die großen Umbrüche der Druckindustrie wie der Umstieg auf den Offset-Druck geschahen erst später. Gleißner nutzte diese Zeit, um aktiv Gewerkschaftsarbeit zu leisten, gefördert von führenden Persönlichkeiten wie Gewerkschafter Leonhard Mahlein, von 1968 bis 1983 Vorsitzender der IG Druck und Papier.
Gleißners Aufgaben reichten von lokalen bis hin zu bundesweiten Funktionen in der IG Druck und Papier sowie der späteren IG Medien. Zu den größten Erfolgen zählt er Tarifabschlüsse mit Lohnerhöhungen von bis zu 10 Prozent, die Einführung der 35-Stunden-Woche und den sogenannten RTS-Tarifvertrag von 1978, der sicherstellte, dass Beschäftigte trotz Einführung neuer Technologien gut bezahlt blieben.
Seit der Jahrtausendwende sieht Gleißner mit Sorge, wie der Zusammenhalt in der Arbeitswelt schwindet. Während früher fast jeder Gewerkschaftsmitglied war, ist diese Bindung heute oft verloren gegangen. Ursachen sieht er in den veränderten Bedingungen der Arbeitswelt, dem Druck durch Globalisierung und dem Wandel in den Betrieben, die zunehmend auf Kostenreduktion und weniger auf Betriebstreue setzen.
Trotzdem hat Gleißner bis heute seinen Optimismus bewahrt. Von 1999 bis 2017 war er Vorsitzender der NN-Senioren und organisierte zahlreiche Veranstaltungen, von Bildungsreisen bis zu geselligen Treffen. Das hat den Zusammenhalt unter den ehemaligen Kollegen gefördert.
Auch mit fast 90 Jahren bleibt Gleißner aktiv. Jeden ersten Mittwoch im Monat nimmt er an den Rentnertreffen teil und plant, dies auch nach seinem Geburtstag am 28. Januar 2025 fortzusetzen. "Selbstverständlich nicht!", antwortet er energisch auf die Frage, ob er sich irgendwann zurückziehen wolle. Seine Einstellung zeigt: Zusammenhalt und Engagement sind für ihn nicht nur Werte der Vergangenheit, sondern gelebte Realität.