Ausgabe 01/2025
Liebe Leserin, lieber Leser,
Von Petra Welzel |in dem Kiez, in dem ich lebe, lebt seit einigen Jahren auch ein Obdachloser. Ein Mann mit schlohweißem Haar. Wenn ich morgens zur Arbeit gehe und abends von ihr zurückkehre, sitzt er immer in der Nachtbushaltestelle in meiner Straße, geschützt vor Regen, Schnee und Sturm, und liest. Deshalb nennen wir ihn in unserer Nachbarschaft auch den Bücherwurm. Wir bringen ihm Lesestoff, Essen oder neue Schuhe, wenn seine aus dem Leim gegangen sind. Eine türkische Nachbarin bringt ihm regelmäßig ein Frühstück und abends eine warme Mahlzeit. Warum ich das hier erwähne? Weil es mir jeden Tag aufs Neue zeigt, dass wir einander helfen, unterstützen, solidarisch sind und oft nicht so gespalten, wie es manche Studien belegen. Was im Kleinen wirkt, funktioniert auch im Größeren. In unserer Reportage (S. 6+7) haben wir Münster besucht, die Stadt, in der die AfD bei Wahlen kaum über 2 Prozent kommt. Bürger*innen, Wissenschaftler, der Bischof, ein Entertainer und unser Gewerkschaftsmann vor Ort sagen alle dasselbe: Es läge an der solidarischen Gemeinschaft in Münster, dass die Rechten dort keine Schnitte machen.
Auch Magdeburg haben wir besucht (S. 13). Dort haben nach der fürchterlichen Amokfahrt auf dem Weihnachtsmarkt die Übergriffe auf Menschen mit Migrationsgeschichte zugenommen. Doch auch in Magdeburg, wo die AfD deutlich mehr Wähler*innen hat, funktioniert die Zivilgesellschaft. "Wir waren doch auch betroffen. Wir waren Opfer, wir waren Ersthelfer. Es war auch unsere Trauer", sagt Krzysztof Blau, der ehrenamtliche Integrationsbeauftragte der Stadt.
200 bis 300 Pakete am Tag liefert Susanne Wäling (61) aus. Die Sozialarbeiterin, die vier Kinder großgezogen hat, ging vor 15 Jahren zur Post. Sie klagt nicht über ihre oft anstrengende Arbeit, aber zusammen mit ihren Kolleg*innen will sie in der laufenden Tarifrunde mehr Geld und Freizeit durchsetzen. "Die Kilostemmerin" (S. 8) ist Vertrauensfrau in ihrem Betrieb und seit neun Jahren Teil der ver.di-Familie. Auch Kolleg*innen wie sie halten die Gesellschaft am Laufen.
Petra Welzel
Chefredakteurin der ver.di publik