Ausgabe 01/2025
Wenn der Postmann elfmal klingelt
Oft fragen wir uns, wie haben die Menschen das eigentlich vor 100 Jahren gemacht, wenn sie sich kurzfristig verabreden oder sehen wollten? Es gab noch kein Internet, keine Handys und Chatgruppen, und selbst ein Telefon besaßen nur die wenigsten. Laut unterschiedlichen Quellen kamen auf 100 Einwohner*innen 3 bis 4 Telefone. Selbst wenn jemand also ein Telefon besaß, war längst nicht sicher, dass der- oder diejenige, mit der er sich treffen wollte, telefonisch erreichbar war. Eine kleine, aber aufschlussreiche Ausstellung im FHXB, dem Friedrichshain-Kreuzberg Museum in Berlin, gibt mit Postkarten aus den Jahren 1890 bis 1945 Auskunft darüber, wie die Menschen seinerzeit zueinanderkamen.
Über 5.600 Postkarten hat das Museum digitalisiert. Und zwar nicht irgendwelche, sondern die Postkarten, die der Kreuzberger Peter Plewka Zeit seines Lebens auf Flohmärkten oder bei Antiquaren von seinem Berliner Viertel gefunden und erstanden hat. Auf dem Großteil der Karten sind Straßen, Plätze, Betriebe sowie Alltagsszenen aus seinem Kiez zu sehen, viele in schwarz-weiß, aber auch viele in Farbe. Interessant sind aber auch die Rückseiten der Postkarten. Die meisten sind nämlich beschrieben, nicht etwa von Peter Plewka, sondern von denjenigen, die die Karten einst verschickten. Und zwar immer wieder nur aus dem Grund, sich mit einem Freund oder einer Freundin noch am selben Tag hier oder da treffen zu wollen.
Da stellt sich aus heutiger Sicht die Frage, wie das funktioniert haben kann, wo doch dieser Tage Briefe und Postkarten manches Mal in derselben Stadt eine ganze Woche unterwegs sind, bis sie beim Adressat ankommen? Die Antwort ist so einfach wie verblüffend: In Berlin und auch in anderen Städten wurde seinerzeit neun bis elfmal am Tag die Post zugestellt. Wer morgens also den Wunsch nach einer Verabredung zum Essen oder ins Theater im Postamt aufgab, erhielt im besten Fall noch zur rechten Zeit eine Zu- oder Absage.
Auf den Spuren der Gewerkschaften
Heute geht das alles per WhatsApp oder einem anderen Messangerdienst in Nullkommanichts, und in Zeiten des Fachkräftemangels in nahezu allen Branchen ist es unvorstellbar, dass heute quasi im Stundentakt zu Werkzeiten zugestellt würde. Andererseits zeigen die Dokumente aus der Zeit der drahtlosen Kommunikation, dass der Mensch – im Prinzip angefangen mit der Höhlenmalerei – ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis hat und dafür immer wieder neue Wege findet.
Die Ausstellung „Aus der Zeit“, so ihr Titel, geht aber weit über diese Erkenntnis hinaus. Die komplette Postkartensammlung steht digital zur Verfügung und ermöglicht am Beispiel von Berlin-Kreuzberg wichtige Ereignisse der Geschichte exemplarisch nachzuvollziehen. In der Ausstellung ist so auch ein Kapitel dem Zeitungsviertel und seinen Gewerkschaften gewidmet: „Paula Thiede und Kolleg*innen“. Noch heute befinden sich in dem Stadtteil von BILD über taz bis Tagesspiegel und Zeit online etliche Medienhäuser. Um 1900 schlug vor allem aber auch die Stunde der Arbeiterbewegung in der Branche. Mit Paula Thiede setzte sich eine Hilfsarbeiterin im Druckgewerbe als erste Frau an die Spitze einer Gewerkschaft, den „Verband der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -arbeiterinnen Deutschlands“, die Urgewerkschaft, auf der ver.di fußt.
Anhand der von Peter Plewka gesammelten Postkarten lassen sich Spuren von Paula Thiede bildlich nachvollziehen. Jahrelang hat sie in der Kreuzberger Friedrichstraße in ärmlichen Verhältnissen gelebt. Die Postkartenmotive, die sich aus den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts in der Sammlung befinden, geben einen Eindruck von der Friedrichstraße damals, die kaum noch etwas mit der Einkaufsmeile von heute zu tun hat.
Die tausenden Postkarten sind ein wahrer Fundus, geradezu ein Geschenk, wenn man sich dafür interessiert, wie die Menschen um 1900 bis zum Ende des 2. Weltkriegs gelebt haben. Wie sich ihr Viertel entwickelt hat, welche Geschichte es geschrieben hat. 6.096 Bürger jüdischen Glaubens lebten nach einer Zählung von 1933 in Kreuzberg. Auch ihnen ist ein Kapitel der Ausstellung gewidmet. Peter Plewka hat unter anderem eine Ansichtskarte mit dem Foto der Porzellanfabrik von Julius Edelstein samt Porzellangeschäft in der Alexandrinenstraße 95–96 erstanden. Heute existiert der prachtvolle Altbau nicht mehr, wie viele andere Häuser und Gebäude aus der Jahrhundertwende in Kreuzberg wurde er im Krieg zerstört. Julius Edelstein und seine Frau Margarete wurden in Riga von den Nazis ermordet. Nie wieder – auch das transportiert diese Ausstellung anschaulich und das sogar digital.
AUS DER ZEIT – EINE KREUZBERGER POSTKARTENSAMMLUNG, 1890–1945, FHXB FRIEDRICHSHAIN-KREUZBERG MUSEUM, ADALBERTSTR. 95A, 10999 BERLIN, BIS 11. MAI 2025, DI–DO 12–18 UHR, FR–SO 10–20 UHR, DIGITAL DURCHGEHEND UNTER