Ausgabe 01/2025
Wenn die Stunde der Gewerkschaften schlägt
„Liebe Mitbürger, ich rufe das Kriegsrecht aus, um die Republik Korea vor der Bedrohung durch kommunistische Kräfte aus Nordkorea zu schützen.“ Mit diesen Worten wandte sich Südkoreas inzwischen Ex-Präsident Yoon Suk-yeol am 3. Dezember 2024 um 22:29 Uhr koreanischer Zeit in einer überraschenden Fernsehansprache an die Bevölkerung.
Der drastische Schritt erfolgte vor dem Hintergrund eskalierender Haushaltsverhandlungen mit der oppositionellen Demokratischen Partei, die das Budget für Staatsanwaltschaft, Polizei und Geheimdienste drastisch gekürzt und die Mittel stattdessen für soziale Sicherheit, Wohnungsbau und öffentliche Dienstleistungen umgeleitet hatte. Yoon verurteilte diese Entscheidungen scharf und warf der Opposition „staatsfeindliche Aktivitäten“ vor, die darauf abzielen, die Regierung handlungsunfähig zu machen. Deshalb der Griff zum Kriegsrecht.
Doch das hat weitreichende Folgen: Es schränkt Bürgerrechte und die politischen Handlungsmöglichkeiten der Opposition radikal ein, ermöglicht die Kontrolle der Armee über zentrale Bereiche des öffentlichen Lebens und macht Streiks sowie andere Formen von Protesten illegal.
Die Nacht der Entscheidung
Nur Minuten nach der Ansprache spitzte sich die Lage zu: Hunderte schwer bewaffnete Soldaten umzingelten das Parlamentsgebäude in Seoul, um eine Abstimmung über das Kriegsrecht zu verhindern. Soldaten stürmten das Gebäude und verschafften sich gewaltsam Zugang, während Oppositionsabgeordnete, die sich bereits im Inneren befanden, die Eingänge blockierten, Barrikaden errichteten und mit Feuerlöschern Widerstand leisteten.
Gleichzeitig formierten sich Proteste, Gewerkschaften mobilisierten hunderte Demonstranten und unterstützten die Abgeordneten. Ryu Mikyung, Abteilungsleiterin für Internationales bei der Korean Confederation of Trade Unions (KCTU), beschreibt die Nacht als entscheidend: „Viele unserer Aktivist*innen und Mitglieder sahen die Nachrichten im Fernsehen, als bekannt wurde, dass die Kriegsrecht-Armee bereits das Parlamentsgebäude umzingelt hatte. Die Abgeordneten wollten in den Plenarsaal, wurden aber von der Armee daran gehindert. Wir wussten, dass wir vor Ort sein mussten, um der Armee Einhalt zu gebieten, damit die Abgeordneten ihre Arbeit machen konnten.“ Innerhalb kürzester Zeit riefen die KCTU und andere Gewerkschaften ihre Mitglieder auf die Straßen.
Die KCTU ist eine der größten und einflussreichsten Gewerkschaftsorganisationen in Südkorea. Sie ist fortschrittlich, kämpferisch und setzt sich stark für Arbeitnehmerrechte, soziale Gerechtigkeit und politische Reformen ein. Strukturell ist sie vergleichbar mit dem DGB in Deutschland, also ein Dachverband verschiedener Branchengewerkschaften.
Gegen 5 Uhr morgens gab Präsident Yoon Suk-yeol schließlich bekannt, dass er das Kriegsrecht wieder aufheben würde. Zu diesem Zeitpunkt hielt das Exekutivkomitee der KCTU eine Sitzung ab, um den nächsten Schritt zu planen.
Die Gewerkschafter kamen zu dem Schluss, dass neben der Aufhebung des Kriegsrechts auch die sofortige Amtsenthebung des Präsidenten notwendig sei. Schon am nächsten Tag rief die KCTU ihre Mitglieder zu einem landesweiten Streik auf, um Druck auf das Parlament auszuüben. Ryu Mikyung erzählt: „Einige unserer Mitgliedsgewerkschaften, wie die Korean Metal Workers Union, organisierten ihre eigenen Entscheidungsprozesse und beschlossen, einen Teilstreik zu beginnen. Am 5. und 6. Dezember traten Mitglieder aus verschiedenen Sektoren wie dem Metall-, Eisenbahn- und Bildungsbereich in den Streik. Es gab Straßenmärsche und Kundgebungen, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen.“ Die Aktionen trugen maßgeblich dazu bei, den politischen Druck zu erhöhen und das Verfahren zu beschleunigen.
Ein politisches Pulverfass
Die Ereignisse markieren einen Wendepunkt für die südkoreanische Demokratie, sagt Dr. Christoph Heuser, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Südkorea. Er kritisiert Yoon scharf für dessen Gefährdung der Demokratie. „Yoon kombiniert Verschwörungstheorien, Antikommunismus und das Narrativ einer nordkoreanischen Unterwanderung mit gezielten Angriffen auf demokratische Institutionen.“
Gewerkschaften spielten in der Krise eine Schlüsselrolle, so Hauser. Die Gewerkschaften trieben Proteste entscheidend voran und würden als Widerstandskraft gegen die autoritären Tendenzen der Regierung auftreten, betont er. So versteht auch Gewerkschafterin Ryu Mikyung ihre Rolle: „Uns wird häufig vorgeworfen, zu militant zu sein. Tatsächlich ist es umgekehrt. Wir verteidigen die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und das Recht auf friedliche Proteste, während die Regierung und ihre Anhänger Gewalt ausüben und die demokratischen Institutionen angreifen.“
Die Mobilisierung der Gewerkschaften sowie die Androhung eines Generalstreiks waren letztlich ausschlaggebend für den schnellen Zusammenbruch des Putsches. Dem massiven politischen Druck und dem entschlossenen Handeln von Abgeordneten und Demonstrierenden ist es zu verdanken, dass das Parlament das Kriegsrecht sechs Stunden nach seiner Verkündung einstimmig aufhob und ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten einleitete.
Doch die Lage bleibt angespannt. Ryu Mikyung warnt vor einer weiteren Polarisierung: „Junge Männer schließen sich zunehmend rechtsextremen oder faschistischen Bewegungen an, was wir bisher in Korea kaum gesehen haben. Sie werden von Präsident Yoon und seinen Anhängern angestachelt, die Gewalt und Chaos nutzen, um die demokratischen Prozesse zu verzögern.“ Diese Entwicklung wird durch Fake News und Verschwörungstheorien verstärkt, die gezielt verbreitet werden, um die Opposition zu diskreditieren.
Ein langer Weg
Die Bedeutung der Gewerkschaften geht dabei über die politische Krise hinaus. Die südkoreanische Gesellschaft ist durch extreme soziale Ungleichheiten geprägt. Laut OECD-Daten lebten 2018 etwa 16,7 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, was die dritthöchste Armutsrate unter den OECD-Staaten darstellt. Ryu Mikyung betont: „Unser Ziel ist es, nicht nur die aktuelle Krise zu bewältigen, sondern auch grundlegende Reformen einzuleiten. Themen wie soziale Ungleichheit, Geschlechtergerechtigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse und überlange Arbeitszeiten stehen ganz oben auf unserer Agenda. Eine unserer wichtigsten Forderungen ist das Recht aller Arbeitnehmer*innen, unabhängig von ihrem Status, einer Gewerkschaft beitreten zu können und ihre Rechte durchzusetzen.“
Fürs Erste plant die Gewerkschaft deshalb eine umfassende Kampagne zur Stärkung der Gewerkschaftsrechte und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. „Wir müssen insbesondere den Gender-Pay-Gap verringern und die Rechte von Frauen in der Arbeitswelt stärken“, sagt Ryu Mikyung.