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Die Stadt Münster von oben
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Der umgebaute Hafen ist ein beliebter Treffpunkt
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Antiquar Michael Soldner
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Hier wird des Westfälischen Friedens gedacht
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Chemietechnikerin Hannah Koppetz-Mitra
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Münster ist Fahrradstadt
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Soziologe Andreas Kemper
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Überall Korkmännchen von Straßenkünstlern
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Entertainer Adam Riese
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Die Innenstadt Münsters ist weitgehend autofrei
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Politikwissenschaftler Oliver Treib
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Kupfermodell in der AltstadtRolf Nobel
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ver.di-SekretärThomas Meißner
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Start der Demokratie-Kampagne kirchlicher Verbände
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Mit dem Umbau des Hafens wurde ein lebendiges Stadtquartie gewonnen

Hätte das ZDF nicht ab 1998 die Kriminalkomödie "Wilsberg" ausgestrahlt und wäre dann 2002 nicht der Münsteraner Tatort des WDR gefolgt, das "größte Dorf der Welt" mit seinen 323.000 Einwohnern wäre den meisten Deutschen bis heute wahrscheinlich unbekannt geblieben. Erst der chronisch klamme Wilsberg, der sein bescheidenes Einkommen aus einem Antiquariat als Detektiv aufbessert, sowie der Tatort um den exzentrischen Gerichtsmediziner Professor Boerne und den bodenständigen Kriminalhauptkommissar Frank Thiel holten das etwas verschlafene Münster aus seinem medialen Dornröschenschlaf – und das als Quotenhits des Krimi-Genres.

Frank Thiel ist bekanntlich leidenschaftlicher Fan des Bundesligisten FC St. Pauli. Es passt also gut, dass der kauzige Kommissar und sein Darsteller Axel Prahl, wie fast alle Münsteraner, eine klare Abneigung gegen Rechtsradikalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit hegen. In Münster dümpelt die rechte Alternative für Deutschland (AfD) bei Wahlen seit Jahren unter der 5-Prozent-Hürde und beschert den Rechten hier die niedrigsten Wahlergebnisse aller deutschen Großstädte.

Kaum mehr als 2 Prozent

Ganze 2,2 Prozent erhielten die Rechten bei der Stadtratswahl im Jahr 2020. Zur Bundestagswahl 2021 bekamen sie mit 2,87 Prozent nur unwesentlich mehr Stimmenanteil. Bei der Landtagswahl 2022 waren es wieder nur magere 2,2 Prozent der Zweitstimmen. Ganze 4,8 Prozent erreichte die AfD bei der Europawahl im Juli 2024. Und das bei einer Wahlbeteiligung von 74, 3 Prozent, fast 10 Prozent über dem Bundesdurchschnitt.

Um die Zahlen einordnen zu können: Die AfD sitzt heute mit 76 Abgeordneten im Bundestag, ist in 14 von 16 Landtagen vertreten und stellt einen Oberbürgermeister und einen Landrat. Auch bei den Kommunalwahlen 2024 konnte sie fast überall zulegen. In den Prognosen für die Bundestagswahl liegt sie derzeit bei rund 20 Prozent, das ist der zweithöchste Prognosewert aller Parteien.

„Die Revolution wird nicht unbedingt aus Münster kommen, aber die Münsteraner lassen sich auch nicht alles gefallen und haben schon oft an den richtigen Stellen Nein gesagt.“ Thomas Meißner, stellv. ver.di-Geschäftsführer im Münsterland

Beim Gang durch Münster hört man irgendwann automatisch auf, die Kirchen zu zählen. Allein 25 gibt es in der Innenstadt. Und schon daran merken auswärtige Besucher, dass die Stadt von einem katholisch geprägten Bürgertum dominiert wird. Das von vielen Kirchtürmen die Straßen beschallende Glockengeläut hat zu der Münsteraner Redensart geführt: "Entweder regnet es in Münster, oder es läuten die Glocken. Geschieht beides gleichzeitig, ist Sonntag!"

Oliver Treib (53), Politikwissenschaftler an der zentral gelegenen Universität Münster, sieht unter den AfD-Wählern vor allem "Globalisierungs- oder Modernisierungsverlierer. Menschen, die sich durch den Wandel der Wirtschaft von einer nationalen Industrie- zu einer globalen Dienstleistungsgesellschaft bedroht fühlen". Diese würden aus Angst vor diesen Prozessen eher eine rechtsextreme oder rechtspopulistische Partei wählen. "Davon gibt es in einer Region in Ostsachsen natürlich deutlich mehr als in einer Stadt wie Münster, wo es im Prinzip zwei große Milieus gibt", sagt Treib. "Das sind junge, hoch gebildete Studierende, die fast nie AfD wählen, und sehr reiche, ebenfalls hoch gebildete Menschen, die sehr konservativ sind und deren Milieu sehr katholisch geprägt ist. Die starke Rolle des Katholizismus führt dazu, dass nur wenige aus der bürgerlichen Mitte für die AfD empfänglich sind."

"Unser Land bekommt ihr nicht!"

Im jungen und katholischen Münster spielen christliche Werte wie Nächstenliebe und Gemeinsinn tatsächlich noch eine Rolle. "Demokratie ist nicht nur eine Staatsform", sagt denn auch der katholische Bischof Dr. Felix Genn (74), "sondern eine Lebenseinstellung." Den Feinden unserer Demokratie hat er zum Auftakt der Bundestagswahl in einem Aufruf von katholischer Kirche, Caritas und Bund der Katholischen Jugend versichert: "Unser Land bekommt ihr nicht!" Die AfD wird darin zwar nicht explizit genannt, aber der Text ist eindeutig: "Als Christinnen und Christen stehen wir auf, wenn Ausgrenzung, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und ein Autoritarismus propagiert werden, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährden."

Die Einwohner*innen von Münster wählen zumeist die etablierten Parteien wie CDU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD oder FDP. Seit 15 Jahren ist der 59-jährige Markus Lewe (CDU) Oberbürgermeister von Münster. Die CDU ist mit 23 Sitzen die stärkste Fraktion im Rat, dicht gefolgt von den Grünen mit 20 Sitzen.

"In Münster und im Münsterland finden wir gute, historisch gewachsene Rahmenbedingungen vor. Das ehrenamtliche Engagement in der Stadt ist zum Beispiel sehr ausgeprägt. Bürgerschaftliche Verantwortung wird hier noch großgeschrieben", sagt Oberbürgermeister Lewe. Ein Beispiel dafür ist die eigentlich nur temporär geplante Skulptur von Paul Wulf, die von der Künstlerin Silke Wagner geschaffen wurde. Paul Wulf wurde im Rahmen der nationalsozialistischen Euthanasiepolitik zwangssterilisiert und kämpfte zeitlebens um Entschädigung und Aufklärung. Münsteraner Bürger*innen fanden das Gedenken an ihn wichtig, sammelten Geld, kauften die Skulptur. Seit 2010 steht sie nun dauerhaft vor dem Iduna-Haus in der Altstadt.

"Wir versuchen in der Bevölkerung eine Kultur des Vertrauens gegenüber dem Rat und dem Oberbürgermeister zu erzeugen und auch ein Gespür dafür zu entwickeln, wo in unserer Stadtgesellschaft Umbrüche entstehen", sagt Lewe. "Wie zum Beispiel gerade in einem Münsteraner Viertel, wo es tatsächlich soziale Probleme gibt und bestimmte extreme Gruppierungen massiv über soziale Medien versuchen, das für sich zu nutzen und Ausländerfeindlichkeit zu schüren."

Im Gegensatz zu vielen anderen Städten in Deutschland wurde in Münster bereits in den 1990er Jahren ein Konzept zur dezentralen Unterbringung von Flüchtlingen entwickelt. "Das hat damals viel Moderation gekostet", sagt Lewe, "aber auch zu einer hohen Akzeptanz des Themas in der Bevölkerung geführt." Auch heute würden Themen der Flüchtlingspolitik zunächst als Konzept entwickelt und dann von den Parteien im Stadtrat weitgehend im Konsens verabschiedet.

Was Angst macht

Michael Solder (56), in dessen Antiquariat Wilsberg gedreht wird, ist ein Mann der Kultur. In seinem winzigen Laden stapeln sich die Bücher. Zumeist alte Ausgaben, viele in Leder gebunden, überwiegend philosophische Werke. Die kauft und verkauft er in ganz Europa. Selbst auf dem Fußboden des Antiquariats muss man aufpassen, wohin man seinen Fuß setzt. "Wenn die Rechten irgendwann die Kulturpolitik bestimmen, macht mir das Angst", sagt er. "Ich habe von Kollegen aus Österreich gehört, dass die rechte FPÖ, die wahrscheinlich bald in die Regierung eintreten wird, dann freie und kritische Kulturprojekte vermindert fördern will!"

In seinem Kollegenkreis habe er zahlreiche jüdische Antiquare aus den Niederlanden, Belgien und England. Diese würden mit Sorge nach Deutschland blicken und ihn fragen: "Sag mal, was ist bei euch schon wieder los?" Der Antiquar könne darauf nur antworten: "Dass Antisemitismus in manchen Kreisen wieder salonfähig wird, beschämt mich zutiefst und stößt mich ab."

Eigentlich ist Adam Riese (58) Informatiker. Bekannt aber ist er in Münster als Entertainer der Adam Riese Show. Die findet zwei Mal im Jahr im Saal des futuristischen Viersterne-Hotels Atlantic statt. Wenn Riese in der Bar des Hotels in seinem rosafarbigen Anzug, der bunten Krawatte und dem passenden Einstecktuch einen Cocktail trinkt, dann glaubt man kaum, dass er früher Sänger der Punkband Äni(x)Väx war.

"Für mich hat das schlechte Abschneiden der Höcke-Jünger hier mehrere Gründe", sagt er. Münster, als große Universitätsstadt mit vielen Studierenden, Akademiker*innen und Forschenden, weise ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau auf. Die ausländerfeindliche und rechte Politik finde hier keinen Nährboden, da die gut ausgebildeten Münsteraner eher fortschrittliche und weltoffene politische Einstellungen vertreten. Hinzu käme, so Riese, dass der Westfale tendenziell eher bürgerlich sei: "Die laute und aggressive Tonalität der Rechten ist ihm ein Graus."

Wenn dann noch Prominente wie die Schauspielerin und Kabarettistin Lisa Feller, der Psychologe und Autor Leon Windscheid oder Schlagerstar Roland Kaiser Flagge gegen Rechts zeigen, trägt das zusätzlich zur Wirkung bei, sagt Riese. "Besonders schön ist es, wenn die Punkband Donots mit einem Konzert auf dem Prinzipalmarkt immer dann die Wände des Rathauses zum Wackeln bringen, wenn die AfD drinnen tagt", sagt er mit unverhohlener Schadenfreunde.

Hohe Einkommen, geringe Existenzängste

Vor allem die Grünen profitieren vom ausgeprägten Umweltbewusstsein und dem fortschrittlichen Geist der Stadt. Die jungen Münsteraner – 65.000 von ihnen sind Studierende – sind mehrheitlich "woke". Eine ausgeprägte Fahrradkultur – mit Spitzenwerten von 23.000 Radfahrern binnen 24 Stunden – umweltbewusste Lebensstile und ein starker Gemeinschaftssinn spiegeln das wider. Selbst Kommissar Thiel radelt bei der Aufklärung seiner Mordfälle durch Münster. Über 40 Prozent aller Wege legen die Münsteraner*innen mit dem "Leeze" zurück, wie das Fahrrad in Münster genannt wird. Damit liegt Münster hinter dem niederländischen Utrecht weltweit an der Spitze.

Hinzu kommt eine hohe Zufriedenheit mit den Lebensbedingungen vor Ort. Im Glücksatlas, für den jährlich Bürger*innen deutscher Städte zur Lebensqualität in ihrer Heimatstadt befragt werden, belegte Münster 2024 den 6. Platz. Dies geht Hand in Hand mit einem überdurchschnittlich hohen Einkommen und geringen Existenzängsten. Das Ausmaß an verbalen Klagen über wirtschaftliches Abgehängtsein wie in den neuen Bundesländern gibt es in Münster nicht. Wer durch die Altstadt schlendert, sieht unzählige inhabergeführte Geschäfte, keinen Leerstand, viele Kunstgalerien, Antiquitätenläden und einige hochpreisige Boutiquen mit teuren Edelmarken.

"Wir haben hier relativ viele Menschen, die in gesicherten Verhältnissen leben, auch wenn sie nicht unbedingt reich sind", sagt Thomas Meißner (56), stellvertretender Geschäftsführer der Gewerkschaft ver.di im Münsterland, "die aber nicht von der Hand in den Mund leben müssen. Die nicht ständig Angst haben müssen, dass ihr Leben den Bach runtergeht. Die Revolution wird nicht unbedingt aus Münster kommen, aber die Münsteraner lassen sich auch nicht alles gefallen und haben schon oft an den richtigen Stellen Nein gesagt."

Und wie steht es mit der Brandmauer gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD? "Die Frage stellt sich in der politischen Arbeit gar nicht, weil die AfD in Münster noch weniger Stimmen hat als Volt", erklärt der Gewerkschafter. "Aber auf Bundesebene ist eine Brandmauer unerlässlich. Wir brauchen sie als eine klare Abgrenzung gegen eine Zusammenarbeit mit ihr, weil die AfD elementare Werte unserer Demokratie nicht akzeptiert und in Teilen sehr weit rechts steht."

Den Soziologen und Publizisten Andreas Kemper (61) trifft man hin und wieder im Café Malik. Mit Maria, der resoluten Wirtin, die in Münster mindestens so viel Kult ist wie ihre über 40 Jahre alte Studentenkneipe, ist Kemper per Du. Aber das scheint hier normal zu sein. Begünstigt von der Lage gleich um die Ecke von der Unibibliothek, über der in roten, großen Neonbuchstaben steht: GEHORCHE KEINEM, hat das Café Malik seinen Studentencharme über die Jahrzehnte bewahrt.

Kemper, ein profunder Kenner der AfD, ist ein ruhiger und sachlicher Mensch. Ruhiger, als man es angesichts der haarsträubenden Äußerungen von Alice Weidel in ihrer Wenn-wir-am-Ruder-sind-Rede auf dem Parteitag der AfD eigentlich sein kann. "Wenn man sich anschaut, welche Merkmale mit der AfD einander bedingen, dann sind das Armut, Bildungsferne und das Ost-West-Gefälle. Bei den geringen Stimmenanteilen in Münster spielt auch eine Rolle, dass es hier wenig Hoffnungslosigkeit gibt und der Frauenanteil um 4 Prozent höher ist als der der Männer. Frauen wählen deutlich seltener AfD als Männer. Und es spielt sicher auch eine Rolle, dass die CDU hier nicht so konservativ ist wie anderswo und die Antifa in Münster stark ist."

Der Soziologe glaubt nicht, dass die AfD ihr bundesweites Potential mit den 20 Prozent der letzten Wahlprognosen bereits ausgeschöpft hat. Er schätzt es auf 25 Prozent. "Das Stammwählerpotential sehe ich aber nur bei etwa 7 Prozent. So weit kann man die Partei wohl noch zurückdrängen. Es hängt aber immer davon ab, was in den Medien gerade getriggert wird." Auch Politikwissenschaftler Oliver Treib beziffert das Stammwählerpotential mit maximal 10 Prozent ähnlich groß.

"Keinen Meter den Nazis"

Eine große Gefahr sieht Kemper jedoch darin, dass sich aus den drei Strömungen innerhalb der AfD – den Faschisten um Höcke, der demokratiefeindlichen und marktlibertären Weidel-Fraktion und den Verfechtern eines christlichen Fundamentalismus – eine ultrakapitalistische reaktionäre Partei entwickeln könnte.

Dass sich viele Menschen in Münster aktiv gegen Rechtsextremismus und für eine offene Gesellschaft einsetzen, zeigte sich am 16. Februar 2024. An diesem Tag fand mit rund 30.000 Teilnehmer*innen die größte Demonstration in der Nachkriegsgeschichte Münsters statt. Anlass war der Neujahrsempfang der AfD im historischen Rathaus von Münster. Dagegen organisierte das Bündnis "Keinen Meter den Nazis" den Protest und flutete Münster mit Demonstrant*innen.

Hannah Koppetz-Mitra war damals dabei. Wer vor ihrer Bürotür steht, weiß sofort, woran er ist. "Well behaved women rarely make history" steht auf einem kleinen Schild: "Gut erzogene Frauen machen selten Geschichte." Die 36-jährige Chemietechnikerin am Institut für Mineralogie ist seit 2011 ver.di-Mitglied und dezentrale Gleichstellungsbeauftragte des Fachbereichs Geowissenschaften. "Die Stadt war voller Menschen! Es gab kein Durchkommen. Diese Menge an Demonstrant*innen, die alle das gleiche Ziel hatten, das erzeugte ein unglaubliches Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität. Wenn ich jetzt darüber rede, dann bekomme ich immer noch Gänsehaut."

"Tatsächlich hat die AfD nach den großen Demonstrationen im Winter letzten Jahres einige Prozentpunkte verloren", sagt Andreas Kemper. "Und das erscheint mir auch logisch, denn nicht alle AfD-Wähler sind gefestigt und bleiben von Massenprotesten unbeeindruckt, zumal auch in den Medien groß darüber berichtetet wird. Große Demonstrationen halte ich deshalb für wirksam im Kampf gegen die AfD."