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Die Publizistin und Schauspielerin Peggy Parnass war eine Ikone im Kampf für GerechtigkeitFoto: Imke Lass/laif

"Ich bin Peggy, Peggy Parnass, Publizistin und Schauspielerin. Meine Eltern waren wunderbar. Mein Vater Pole, meine Mutter halb Portugiesin. Durch die Umstände ist mein Bruder, mein kleiner Bruder Gady, Engländer geworden, ich bin Schwedin geworden. Wir könnten also ständig die Internationale singen in der Familie. Mein Sohn ist Schwede. Mit ihm spreche ich Schwedisch, mit meinem Bruder Englisch. Meine Eltern gibt es nicht mehr. Wir lebten in Hamburg, […] in einem Arbeiterviertel.

Mein Vater war nicht Arbeiter, er war […] Versteigerer, aber das spielte alles keine Rolle, denn er war süchtiger Spieler, sodass wir nie Geld hatten. Ich kam mir trotzdem nie arm vor. Unsere Mutter war unglaublich warm, eine sehr warme, sinnliche, herzliche, liebevolle Frau. Mein Pudl, unser Vater, war witzig, charmant, elegant. Alle Frauen waren verrückt nach ihm. Selbstverständlich auch Mutti, und er war verrückt nach ihr, Gott sei Dank.

Das ist eigentlich das einzig Schöne, an dass ich mich erinnern kann aus meiner Kindheit. Die beiden in ihrer Leidenschaft, wenn er nach Hause kam, egal wann und wie, ob nach einer Stunde oder, wenn er spielte, nach drei Tagen, oder nach einem Tag, oder nach vier Stunden, wenn er kam, sprang sie auf ihn rauf, umschlang ihn mit Armen und Beinen, und sie küssten, sie küssten sich minutenlang. Und ich wusste, das ist Liebe, das war wunderbar. Und im Endeffekt ist sie für diese Liebe, für diese Leidenschaft auch mit in den Tod gegangen.

Jüdische Kinder wussten immer alles

Irgendwann klopfte es morgens um halb fünf bei uns, heftig, sehr laut an die Tür. Es hat mich aus dem Schlaf gerissen. Ich wusste sofort, dass das die Gestapo sein muss. Also jüdische Kinder wussten immer alles. Anders als erwachsene Politiker es behaupten und lügen […], sie haben nichts mitgekriegt. Es war nicht zu übersehen und nicht zu überhören. Es gab ja die Verbote. Uns war alles verboten. Wir durften nicht ins Kino, wir durften nicht ins Theater, wir durften nicht ins Freibad. Wir durften uns im Park nicht auf die Bank setzen. Da waren große Schilder angebracht, für Juden und Hunde verboten. Wir durften kein Eis essen, also wir durften überhaupt nichts.

Und es gab infame Zeitungen, es gab den Stürmer, und diese Zeitungen waren ausgestellt in Glaskästen an jeder Straßenecke. Das konnte also jeder lesen, der lesen konnte. Bei uns in der Straße gab es wenig Nazis, ganz wenige. Bei uns gegenüber wohnte auch ein Widerstandskämpfer, der war Hafenarbeiter […] Und die paar Nazis in der Straße, die wenigen, waren trotzdem sehr mächtig, sehr laut, sehr einflussreich.

Mein Bruder, Gady heißt er jetzt, Bübchen hieß er damals – selbst als er gerade zwei war mit seinen vielen blonden Locken, haben sie ihn auf die Straße geschmissen und sind auf ihm herumgetrampelt. Mich haben sie in die Häuser gezerrt und an die Wand gequetscht. Dann gegrölt vom Messer, Judenblut. Das war kein Spaß. Ja, und als die Gestapo kam, um Pudl mitzunehmen und mich zu verhaften als Polen, weil sie alle Polen rauswarfen aus Deutschland, da hat Mutti sich dazwischen gedrängelt. […] Sie sollte gar nicht mit, hat aber darauf gepocht.

Bübchen war gerade in irgendeinem Erholungsheim, Kinderheim, wir waren immer sehr, sehr unterernährt und sollten aufgepäppelt werden. Also sind Pudl, Mutti und ich mitgegangen, wurden verfrachtet auf einen Viehwagen, ganz langsam durch die Straßen gefahren und Leute guckten aus den Fenstern, Leute gingen hinterher – es war ein Schritttempo – und reagierten unterschiedlich.

Entweder beleidigend und pöbelnd, aber ein Mann zog ganz tief seinen Hut vor Pudl. Pudl hatte mir gesagt, dass ich mich nach draußen stellen sollte, damit gesehen wird, dass auch kleine Kinder verhaftet werden […] Ich kam von einer Polizeistation zur anderen. Überall wurden noch andere Juden mitgenommen. Ein Polizist, den ich sah, war wohl anders als andere, der saß weinend an seinem Arbeitstisch. Er hat geweint. Neben ihm lag eine Banane.

Wir kamen alle in eine Turnhalle. Das fand ich erbärmlich, erbärmlich zu sehen, wie die Jungen da auf den Knien lagen und nach Gott riefen. Die Leute beteten, Hände in die Luft. Also mir war klar, dass ein sogenannter lieber Gott das nicht zulassen wollte. Das konnte nichts mit einem Gott zu tun haben. Ich war froh, dass meine Eltern so etwas nicht machten, obwohl sie wahrscheinlich auch gläubig waren, zumindest sind sie auch mit uns in die Synagoge gegangen, nicht pausenlos, aber ziemlich oft. […]

Die einzige Familie, die überlebte

Ich ging auf die jüdische Mädchenschule […] in der Karolinenstraße. Das war die Schule unserer Mutter, ihrer Schwestern und aller jüdischen Mädchen. Die Straße, die an die Schule grenzt, ist jetzt nach Muttis Schwester benannt. Flora-Neumann-Straße heißt sie jetzt. Flora hat zwei Jahre Auschwitz überlebt. Kaputtgeschlagen, also körperlich kaputt, aber nicht geistig kaputt und nicht emotional kaputt. Und ihr Mann Rudi hat Buchenwald überlebt, auch kaputtgeschlagen, aber auch moralisch intakt. Auch die kämpften immer weiter. Er war Widerstandskämpfer der ersten Stunde, beide waren im Widerstand in Berlin, wohin sie ausgewandert waren, also geflohen, und sie wurden verpfiffen von jemand, der sich in die Gruppe eingeschlichen hatte. Und das bedeutete eben Auschwitz und Buchenwald.

Ein kleines Kind, den kleinen Bernie, der sechs war, hat Flora bei Nonnen versteckt im Kloster. Sie sind die einzige Familie, Hamburger Familie, die als Familie überlebt hat. Es gibt keine andere, nur diese drei Personen. […] Ja, und Pudl da in dieser Turnhalle, Pudl war immer sehr pfiffig und einfallsreich. Er wollte uns retten, er hat mir gesagt, ich sollte zu einem fremden Mann Papa sagen, mit dem rausgehen und mich nicht mehr umdrehen. Ich hab gehorcht, ich hab mich nicht nochmal umgedreht und hab Pudl nie wiedergesehen.

„Am Ausgang standen große SS-Männer in Uniformen, die fanden mich wohl niedlich. Und einer hat mich hochgehoben, und ich war froh, dass ich nicht auf ihn runtergekotzt habe.“

Am Ausgang standen große SS-Männer in Uniformen, die fanden mich wohl niedlich. Und einer hat mich hochgehoben, und ich war froh, dass ich nicht auf ihn runtergekotzt habe und mich nicht verraten habe. Mutti kam auch noch mal raus. Der Pudl hat gesagt, sie sollte so tun, als ob jemand anders ihr Mann wäre. Rein zu Pudl gingen immer noch Leute, nämlich mit Koffern, mit Wäsche, mit was weiß ich. Muttis hübsche Schwester Berti kam auch rein mit großen Koffern. Und ich habe ihr nie verziehen, bis heute, dass sie zum Abschied Pudl küsste, mit einem langen Kuss. Und das war zu viel. Der Kuss war zu lang. Das war Muttis, das gehörte ihr.

Berti hat überlebt, weil sie mit einem Nicht-Juden verheiratet war, der grundanständig war und sich weigerte, sich von ihr zu trennen. Das hat sie gerettet und ihre Kinder gerettet. Das heißt aber nicht, dass sie nicht völlig verstört war […] Also verstört sind wir alle, zwangsläufig, geht gar nicht anders. […] Meine Eltern kamen ins Ghetto und vom Ghetto aus dann nach Treblinka. […] Meine Lieblingsvorstellung war, dass sie bis in den Tod rein eng und heftig umarmt waren, bis zur letzten Sekunde. Das habe ich mir immer gewünscht und das wünsche ich mir nach wie vor natürlich.

Es gibt jetzt diese Stolpersteine, die erstmal keiner haben wollte, die jüdische Gemeinde nicht, auch meine Tante Flora nicht. Sie hatten die Vorstellung, dass es eine einzige Beleidigung wäre, dass darauf rumgetrampelt würde. Ich habe in Veranstaltungen dafür gekämpft, dass es sie gibt. Wir haben ja keine Grabsteine.

[…] Die Stolpersteine für meine Eltern wurden von engen Freunden bezahlt, gekauft. Und ich habe noch einen dritten dazu gekauft. Auf den zwei ersten stehen ihre Namen und solche Dinge. Auf dem dritten, den ich gekauft habe, steht: "Für die Liebenden".

Die Original-Tondatei kann hier angehört werden.

Peggy Parnass

Gerichtsreporterin, Schriftstellerin und Schauspielerin – ver.di nimmt wie viele andere Abschied nicht nur von einem langjährigen Mitglied, sondern vor allem von einem ganz besonderen Menschen. Den Holocaust überlebte Peggy Parnass, die Jüdin, weil ihre Eltern sie und ihren kleinen Bruder 1939 mit einem Kindertransport nach Schweden schickten. Ihre Eltern sollte sie nie wiedersehen. Sie wurden im NS-Vernichtungslager Treblinka ermordet. 2013 erschien ihr Buch "Kindheit: Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete", das von der brasilianischen Künstlerin Tita do Rego Silva illustriert wurde und als schönstes deutsches Buch des Jahres ausgezeichnet wurde. "Ich will mich nicht unterordnen", sagte Parnass einmal in einem Interview. Darin blieb sie sich treu bis zum Ende.