Ausgabe 04/2025
Serbiens Protestbewegung fordert neue Antworten auf alte Strukturen

Der Bahnhof der nordserbischen Stadt Novi Sad ist verwaist. Der Eingang ist mit Absperrgittern weiträumig verriegelt, im Schatten eines Baumes steht eine Polizeistreife. Kerzen, vertrocknete Blumen, Heiligenbilder und Stofftiere stehen auf dem Vorplatz. Es ist glühend heiß. An den Zäunen hängen Schilder mit 16 Namen. Es sind die Namen derer, die am 1. November des vergangenen Jahres ihr Leben verloren, als das Vordach des gerade sanierten Bahnhofs einstürzte.
Sowohl die EU als auch China finanzieren die 2,6 Milliarden Euro schwere Erneuerung des Eisenbahnsystems. Mangelnde Prüfung der Statik soll Grund für den Einsturz in Novi Sad gewesen sein, die Ermittlungen laufen noch. Für viele Serben steht das Unglück jedoch stellvertretend als trauriger Höhepunkt der grassierenden Korruption im Land.
Seit über einem halben Jahr gehen die Menschen gegen Präsident Aleksandar Vučić und dessen Serbische Fortschrittspartei (SNS) auf die Straße, denen man Vetternwirtschaft vorwirft. Den Anfang machten die Studenten, viele weitere Einzelpersonen und Organisationen zogen nach. Die zentrale Forderung der Protestierenden sind Neuwahlen. Nach jüngsten Umfragen könnte eine überparteiliche "Studentenliste" die Wahlen für sich entscheiden.
Und die Gewerkschaften? Man sucht sie im Aufwind der Proteste zunächst vergeblich. "Im besten Fall gibt es eine Solidaritätsbekundung im Internet", sagt Englischdozentin Tamara von der Gewerkschaft der Freien Universität Novi Sad (SUUNS). Die im Zuge der Proteste neu gegründete Basisgewerkschaft setzt sich für bessere Arbeitsbedingungen an den Fakultäten ein. Von den traditionellen Gewerkschaften fühlen sie sich alleingelassen.
"An unserer Hochschule gab es seit 2017 keine Betriebsversammlung mehr", sagt Tamara. Als die Proteste losgingen, hätten sie sich gerade in Tarifverhandlungen befunden. Die Kollegen aus den Kindergärten gingen in den Streik, gewerkschaftliche Unterstützung hätte es jedoch keine gegeben. Unter anderem deshalb blicken viele Aktivisten mit Misstrauen auf große Organisationen wie den Bund der unabhängigen Gewerkschaften Serbiens (SSSS), in dem Funktionäre angeblich über Jahrzehnte an ihren Ämtern klammern.
"Think Tank" für Gewerkschaften
Srdjan Atanasovski von der Polit-Gruppe Radnički Glas (Arbeiterstimme) sieht die Proteste als Chance dafür, dass "Menschen, die bislang kein Interesse daran hatten, sich zu organisieren, jetzt möglicherweise Anreize dafür finden". Für die etwa 50 Personen starke "Denkfabrik", die ähnlich wie Beraterfirmen auf Arbeitgeberseite, Betriebsgruppen berät und für Tarifkämpfe schult, hätten die Demonstrationen jedoch "keine Priorität".
Auch den zahlreichen Neugründungen von Basisgewerkschaften stehen sie mit gemischten Gefühlen gegenüber. Zwar habe man "Verständnis" dafür, dass die traditionellen Gewerkschaften allgemein für Frust sorgen, doch sei das "mangelnden Kompetenzen" und nicht struktureller Korruption geschuldet.
Boom zu Lasten der Armen
Atanasovski hält die bestehenden Strukturen für reformierbar. Sowohl in der Gewerkschaft der Kulturschaffenden (SSKS) als auch in der Gewerkschaft der Wissenschaftler (NAUKE), die beide zur SSSS gehören, habe man sich erfolgreich neu aufgestellt. "Wer am Verhandlungstisch nur mit Argumenten gewinnen will, braucht uns nicht", sagt der 42-Jährige. "Der Arbeitgeber muss dich als Bedrohung sehen, dann ist auch mehr herauszuholen." Die Gewerkschaften will Radnički Glas vor allem durch gewonnene Kämpfe wieder attraktiver machen.
Ein Reizthema unter den Protestierenden ist die für das Jahr 2027 angesetzte Weltausstellung "Expo", die in Belgrad für einen Bauboom sorgt. Dadurch werden nicht nur ärmere Menschen aus der Innenstadt verdrängt, es kommt auch zu "sklavenartigen Beschäftigungsverhältnissen in der Baubranche", sagt Tara Rukeci vom Sozialen Forum Zrenjanin (ZSF). "Arbeitern aus Ägypten, Bangladesch, Vietnam und Indien werden teils die Pässe abgenommen und Löhne vorenthalten", sagt die Aktivistin der linken NGO aus der Industriestadt Zrenjanin vor den Toren Belgrads.
Rukeci setzt sich besonders für Arbeitsmigranten ein, die die zu zehntausenden in den Westen abgewanderten Einheimischen zu Niedriglöhnen ersetzen. "Die neue Bahnstrecke wurde unter massiver Ausbeutung gebaut", sagt die Soziologin. Rukeci geht Gewerkschaftsarbeit strategisch an und hält die zahlreichen Neugründungen von Basisgewerkschaften ebenfalls für den falschen Weg. Eine erfolgreiche Arbeiterbewegung wachse "nicht wie Pilze im Wald, es braucht Vorbereitung".
Ob die aktuelle Protestwelle zu mehr zivilgesellschaftlichem Engagement führt, muss sich noch zeigen. Die Voraussetzungen stehen nach jahrelanger Gleichgültigkeit allerdings gut. Das Interesse an Politik und Demokratie ist so groß wie lange nicht. Der Ball liegt nun bei den Gewerkschaften, die neuen Impulsgebern nur die Türe öffnen müssten.
Die Eröffnung der Bahnstrecke bis nach Ungarn verschiebt sich indes weiter nach hinten. Mitte September soll alles fertig sein, heißt es vom Transportministerium. Für Bahnreisende in Novi Sad ist vorerst jedoch kein Ende in Sicht. Wegen der Einsturzgefahr dürfen bislang keine Statiker in die Bahnhofshalle. Dabei sollen diese eigentlich herausfinden, ob der Bahnhof "abgerissen, renoviert oder teilgenutzt wird".
Anmerkung: Auf schriftliche Anfragen reagierten mehrere Massengewerkschaften nicht.
FAQ zu Serbien
Warum protestieren derzeit so viele Menschen in Serbien?
Die Proteste richten sich gegen Korruption, Vetternwirtschaft und das autoritäre Auftreten der Regierung unter Präsident Aleksandar Vučić. Auslöser war unter anderem der Einsturz eines neu sanierten Bahnhofs, der symbolisch für das Versagen des Staates steht.
Welche Rolle spielen die Gewerkschaften in den aktuellen Protesten?
Die etablierten Massengewerkschaften halten sich weitgehend zurück. Statt aktiver Teilnahme gibt es meist nur symbolische Unterstützung. Neue Basisgewerkschaften versuchen hingegen, sich zu organisieren, stoßen jedoch auf interne Spannungen und Kritik an mangelnder strategischer Vorbereitung.
Welche Arbeitsbedingungen kritisieren die Aktivist*innen besonders?
Massive Ausbeutung von Arbeitsmigranten – insbesondere im Baugewerbe rund um die geplante Weltausstellung „Expo 2027“ in Belgrad – steht im Fokus. Es kommt zu Passentzug, Lohnverweigerung und menschenunwürdigen Bedingungen, während lokale Arbeiter wegen Niedriglöhnen in den Westen abwandern.