Ausgabe 05/2025
Estland erdet

Überquert man die lettisch-estnische Grenze, ändern sich die Zeichen. Wurde vorher entlang der Straßen noch vor Kühen und sonstigem Getier – aber nicht vor Elchen – gewarnt, dominieren nach dem Länderwechsel diese Paarhufer den Schilderwald. Und nicht nur den, in Estland malt man Warnhinweise auch gerne auf die Fahrbahn.
Elche also. Meine Gedanken verabschieden sich in die Richtung, ob Elche grüne Ländergrenzen erkennen. Oder ob die vom World Wild Fund for Nature (WWF) 2023 geschätzt knapp 16.500 lettischen Elche eine Art Straßenverkehrsordnung beherrschen, während ihre rund 11.000 estnischen Artgenoss*innen nach ihren eigenen Regeln leben.
Spätestens knappe 100 Kilometer weiter, im Soomaa-Nationalpark, wird etwas anderes klar: Estland erdet. Der Alltag bleibt schon bei der Anreise irgendwo auf dem Meer zurück, während der Weiterfahrt durch Litauen und Lettland nehmen weitere Fragen Raum in meinem Kopf ein. Wie viele Grüntöne gibt es? Wie verschieden können Wolken sein? Gelten für Elche Regeln? Letztere kann ich nicht fragen. Während des gesamten Aufenthalts begegnet mir kein Exemplar.
Zu 50 Prozent Wald
Über die Hälfte Estlands ist mit Wald bedeckt. 1,37 Millionen Menschen leben in dem nördlichsten der drei baltischen Staaten, 300.000 weniger als in Hamburg. Da rund ein Drittel der Est*innen in der Hauptstadt Tallinn und deren Umgebung leben, bleibt viel Platz, so dass die rund 11.000 Elche trotz beachtlicher Schaufeln auf dem Bullenkopf und eines Gewichts von bis zu 450 Kilogramm ungesehen bleiben können.
Das tierische Gegenteil in Sachen Größe und Sichtbarkeit begrüßt mich im Soomaa Nationalpark. Mücken. Mit einem guten Mückenschutz am Zelt lässt sich am Abend der wunderbare Blick auf das Flüsschen Navesti genießen. Doch bei den Wanderungen am nächsten Tag – vier verschiedene Trails von insgesamt 14 Kilometern Länge – sind sie ständige Begleiterinnen. Sogar der ansonsten tiefenentspannte Hund denkt nur kurz, er sei im Paradies, in dem das Essen vorbeigeflogen kommt.
Meine Haut hat schnell die Struktur von Streuselkuchen. Und das wird den ganzen Urlaub so bleiben, ist doch kein Ort im Land mehr als zehn Kilometer von einem Moor entfernt. Doch mit meiner zunehmenden Entspannung wächst meine Gelassenheit hinsichtlich der Blutsaugerinnen. Der Blick in die Natur lenkt ab. Allein die Trails im Soomaa-Nationalpark könnten unterschiedlicher nicht sein: entlang eines Flussufers durch unwegsames Gehölz und Schilf, ein Naturlehrpfad, eine Runde im Wald oder ein klar strukturierter Holzbohlenweg mit einem Bad im Moorsee als Belohnung.
Des Baltikums höchster Punkt
Sechs Nationalparks gibt es im Land. Ein knappes Viertel der Fläche des Landes stehen unter Naturschutz. Weitgehend flach ist das Land, die höchste Erhebung ist der Suur Munamägi, der Große Eierberg, im Südosten des Landes. Ein Aufstieg auf 318 Meter ist zu bewältigen, vom obigen Aussichtsturm wird man mit einem Blick über Wälder und Seen belohnt. Und mit dem Wissen, dass man jetzt auf dem höchsten Punkt des gesamten Baltikums steht.
Wie es sich für eine wahre Bergwelt gehört, steht auch hier der Skisport im Mittelpunkt. In dem Örtchen Haanja am Fuße des Suur Munamägi schmücken ausrangierte Skier Zäune und Bushaltestellen, nur knappe 20 Minuten weiter lässt im Skigebiet vom Kütioru das Netz von Skiliften auf winterliches Schneevergnügen schließen. Im Sommer sind Pisten für Mountainbikes ausgewiesen. Und an einem kleinen See sind ganzjährig Saunahäuschen zu mieten. Selbst an diesem Augusttag steigt Rauch aus den Kaminen auf.
Auch an vielen Campingplätzen kann man sich gegen Aufpreis eine Sauna anheizen lassen. Für viele öffentliche Bauten gehören sie zum festen Bestandteil der Planung. So wurde beim Bau des Leuchtturms von Narva-Joesuu 1957 die Sauna ebenso mitgeplant wie auf der anderen Seite des Landes beim Bau der orthodoxen Kirche von Tiirimetsa 84 Jahre zuvor. 1944 wurde in der Kirche auf der Insel Saaremaa die letzte Messe gelesen. Heute überwuchert Grün die Ruine.
Russland ist fern und doch so nah

Im Osten des Landes ist die Nähe zu Russland deutlich spürbar. Ein knappes Viertel der estnischen Bevölkerung sind ethnisch Russ*innen, überwiegend leben sie hier in der Grenzregion. Ein großer Teil der Grenze verläuft durch den Peipussee. Er ist sieben Mal so groß wie der Bodensee, Russland ist fern und doch so nah. Im 17. Jahrhundert haben sich hier Altgläubige niedergelassen, auf der Flucht vor Reformen in der Liturgie der russisch-orthodoxen Kirche. Ihre Kirchen und Kreuze mit einem zusätzlichen Querbalken prägen bis heute die Region.
Seinen Teil des Sees überwacht Estland per Radar, erzählt mir mit einem Anflug von Stolz ein Campingplatzbetreiber am See. In Sachen Digitalisierung sei Estland weit fortgeschritten. Außer Heirat und Scheidung könnten alle Verwaltungsakte digital erledigt werden. Da wundert es nicht, dass kein Grenzschutz zu sehen ist. Bis zur Grenzlinie im See sind es von hier elf Kilometer. Drohnen dürfe ich nicht steigen lassen, warnt mich der Mann. Und weiter als einen Kilometer rauszuschwimmen, sei auch nicht erlaubt.

In Narva, der Grenzstadt im Nordosten des Landes, ist Russland zum Greifen nah. Im Abendlicht stehen auf beiden Seiten des gleichnamigen Grenzflusses Männer in dem schmalen, aber reißenden Fluss und angeln. Über ihnen thronen die Hermannsfeste (West) und die Festung Iwangorod (Ost). Sie zeugen davon, dass die Situation hier schon immer schwierig war.
Die Brücke der Freundschaft, die beide Länder und damit auch die EU und Russland verbindet, ist wegen Bauarbeiten derzeit nur zu Fuß passierbar. Wer ins Nachbarland will, braucht Geduld, die Kontrollen sind auf beiden Seiten langwierig. Im Zentrum der drittgrößten Stadt Estlands warten die Menschen bis zu acht Stunden, erzählt mir ein Passant.
Gesprochen wird in der Stadt überwiegend russisch. Nur 150 Kilometer sind es von hier bis St. Petersburg, bis zur estnischen Hauptstadt Tallinn sind es in entgegengesetzter Richtung hingegen rund 50 Kilometer mehr. Wegen des hohen Anteils russischstämmiger Bevölkerung ist im Baltikum seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine die Angst gewachsen, das nächste Opfer russischen Großmachtstrebens zu werden. In allen drei Ländern wehen überall die gelb-blauen Fahnen, Solidarität mit der Ukraine und die eigene Unabhängigkeit werden hier großgeschrieben.
Die entspannte Reise durch das Land ist auch eine Reise durch eine wechselvolle Geschichte. Dänemark, Schweden, der Deutsche Orden, Polen-Litauen, Deutschland, Russland, sie haben alle ihre Spuren hinterlassen. Ebenso wie ein Meteorit vor mehr als 7.000 Jahren auf der Insel Saaremaa, in Kaali, dessen Einschlagsstelle zu den bedeutendsten in Europa zählt.
Estland ist eine Reise wert, insbesondere wenn man viel Natur und wenig Menschen mag. Selbst im August ist hier – abgesehen von der Hauptstadt Tallinn – touristisch gesehen wenig los.
Hier finde man seinen eigenen Rhythmus, wirbt das estnische Fremdenverkehrsamt in einer Pressemitteilung, die mir eine Kollegin nach meinem Urlaub überreicht. Jomo haben sich die Werber*innen als Begriff für dieses Lebensgefühl ausgedacht, joy of missing out, die Freude daran, lieber mal bewusst etwas zu verpassen. Das kann ich nur bestätigen. Die Entspannung wirkt noch Wochen nach der Rückkehr, und die Frage nach den Elchen und den Verkehrsregeln beschäftigt mich immer noch.
Reisetipps
Die Reise: Dreieinhalb Wochen, mit Auto, Zelt und Hund. Hin- und Rückreise mit der Fähre von Kiel nach Klaipeda (Litauen). Vom Südwesten Estlands über Tallinn in den Südosten, entlang der russischen Grenze hoch zur Ostsee, und dann rüber zur Insel Saaremaa im Westen des Landes.
visitestonia.com/de offizielle Website des Fremdenverkehrsamts Estlands
rmk.ee – englischsprachige Website des estnischen Forstamts. Infos zu Wande-
rungen und Nationalparks.
Überall im Land gibt es Unterkünfte jeder Kategorie; vorbuchen musste ich bei ein bisschen Flexibilität im August nicht.