Ausgabe 05/2025
So friedlich hier

Sie läutet jeden Morgen um Punkt 8:15 Uhr mit einem tiefen Klang – die Friedensglocke in Hiroshima. Nur ein Flussarm trennt sie von der Ruine mit Kuppel-Gerippe, die als Mahnmal an die erste, jemals abgeworfene Atombombe erinnert. Die explodierte am 6. August 1945 in 600 Metern Höhe über der damals siebtgrößten japanischen Stadt. In ihrer Hochofen-heißen Druckwelle verglühten binnen Sekunden 70.000 Menschen. Weitere 70.000 erlagen in nur wenigen Tagen, Wochen und Monaten ihren schweren Verbrennungen und Strahlenschäden.
An diesem Morgen Mitte April sind nur vereinzelt Menschen hier und lauschen wie ich dem Schlag der Glocke. Die Sonne ist schon aufgegangen, der Himmel blau und noch blühen die Kirschblüten. Friedlich ist es. Stünde dort drüben nicht diese Ruine, würde kaum etwas an die Apokalypse des 2. Weltkriegs erinnern.
Geschenk an die Überlebenden
Die Friedensglocke wurde erst 1964 errichtet. Ungefähr genauso lange haderten die Bürger in Hiroshima damit, ob sie die Ruine, die alle "Atomic Bomb Dome" nennen, erhalten oder abreißen und damit die letzte Erinnerung an den für sie so verheerenden Krieg aus dem Stadtbild tilgen. Zum Glück fiel die Entscheidung für ihren Erhalt. Und das nicht nur, weil der Friedenspark von Hiroshima mit der Glocke, der Ruine und weiteren rund 70 Monumenten, Skulpturen, Gedenksteinen und einem Museum auf einer Fläche von 12 Fußballfeldern die Stadt heute zu einem Touristenmagnet gemacht hat.
In erster Linie ist der Park ein Geschenk an die Überlebenden. In den frühen Morgenstunden sind es vor allem die Einheimischen, die hier ihre erste Runde im Grünen drehen und mit den Glockenschlägen in stiller Andacht dem Unvergesslichen gedenken. Vielleicht auch der eigenen Kriegsverbrechen, die Japan im 2. Weltkrieg in Korea, China, auf den Philippinen und in anderen Ländern Südostasiens beging.
Omas gegen Atomwaffen
An der Brücke, die den Friedenspark mit der Innenstadt verbindet, versammelt sich gegen 10 Uhr eine Handvoll alter Japanerinnen. Sie begrüßen sich mit einer leichten Verbeugung, dann holen sie Klemmbretter, Unterschriftenlisten und Stifte aus ihren Taschen. Sie verteilen sich auf der Brücke und sprechen die ersten Touristen mit gebrochenem Englisch und einem freundlichen Lächeln an. Tatsächlich sprechen sie kaum Englisch, für was sie Unterschriften sammeln, steht auf den Zetteln auf ihren Klemmbrettern, die sie den Touristen entgegenhalten. Man könnte sie die "Omas gegen Atomwaffen" nennen, in Anlehnung an die "Omas gegen Rechts" in Deutschland. Eine der japanischen Omas sagt, sie sammle schon seit Jahrzehnten Unterschriften von Menschen aus aller Welt, die nach Hiroshima kämen. Sie alle unterschreiben für die weltweite Abschaffung von Atomwaffen.
Am anderen Ende der Brücke zieht derweil eine Schweizer Schulklasse zu einem riesigen Betonbogen in Form einer Haube, wie sie die Mägde im "Report der Magd" tragen. Es ist das sogenannte Kenotaph, das symbolische Grab für die Opfer der Atombombe. Fast 350.000 Menschen sind bis heute an den Folgen ihres Abwurfs allein in Hiroshima gestorben, von rund 250.000 Toten sind die Namen in die Haube graviert.
Die Teenager aus der Schweiz albern miteinander rum, wie das Teenager nun einmal tun. Was hier vor 80 Jahren passiert ist, kennen auch sie wie die allermeisten nur aus dem Geschichtsunterricht. Doch jeder einzelne dieser jungen Menschen verbeugt sich schließlich still am Altar des Kenotaphs vor den Opfern. Durch seinen Bogen wird der Blick über eine Flamme bis zum Atomic Bomb Dome geleitet.
Kraniche für den Frieden
Die Flamme soll erst dann erlöschen, wenn es keine einzige Atomwaffe auf der Welt mehr gibt. Zu befürchten ist, dass die Flamme ewig lodert. Aber hier möchte jede*r ein bisschen daran glauben, dass eine Welt ohne Waffen und ohne Kriege möglich ist.
Inzwischen füllt sich der Friedenspark sichtlich. Kleine Gruppen werden von einem Monument zum nächsten geführt. Ohne anzuhalten, kommt kaum jemand am Friedensdenkmal für die Kinder vorbei. Das Monument erinnert ein wenig an die Zitronenpresse von Alessi. Auf seiner Spitze steht die Figur von Sadako Sasaki, einem japanischen Mädchen, das der Erzählung nach durch die Atombombe verstrahlt wurde und versuchte, 1.000 Papierkraniche zu falten, in der Hoffnung, dadurch zu heilen. Geschafft hat sie es nicht.
Um die Skulptur herum stehen mehrere transparente Boxen mit vermutlich tausenden aus Papier gebastelten Kranichketten. Jede*r kann sich hier seinen eigenen Friedenskranich falten. Die Omas gegen Atomwaffen verschenken jeweils einen für jede Unterschrift.
Am nächsten Morgen, einem Sonntag – die Glocke hat längst geschlagen – tritt unten am befestigten Flussufer schräg gegenüber der Ruine eine japanische Flamencoschule auf. Familie und Freunde, aber auch etliche Touristen schauen den jungen und alten Tänzerinnen über eine Stunde lang gebannt zu. Es wird applaudiert und "olé" gerufen. Der Funke springt über.
Immer am Fluss entlang
Nach der Flamenco-Matinee machen wir uns zu zweit auf den Weg ans Meer. Acht Kilometer laufen wir nahezu durchgehend am Fluss Ōta, der den Bergen der Präfektur Hiroshima entspringt, entlang. Bis er schließlich im Seto-Binnenmeer mündet. Wir laufen vorbei an begrünten Wegen und durch großzügige Neubauviertel mit schlichten Hochhäusern. In Hiroshima leben heute knapp 1,2 Millionen Menschen. Das fühlt man aber höchstens am großen und quirligen Bahnhof.
Am Meer treffen wir nur auf ein paar Spaziergänger*innen, Hochzeitspaare beim Fotoshooting, einige Angler und eine Großfamilie, die Algen sammelt. In der Bucht liegt still ein riesiges Containerschiff. Friedlich ist es auch hier.
Auf Okinawa, der größten südlichen japanischen Insel, auf der wir eine Woche später landen, hat der Krieg andere Spuren hinterlassen. Kaum verlassen wir den Flughafen, jagen über uns US-amerikanische Kampfjets mit einem Höllenlärm hinweg. Auf dem Weg zu unserer Unterkunft in einem alten Fischerdorf passieren wir am Hafen der Inselhauptstadt Naha ein riesiges US-Marinekriegsschiff.
Im Juli 1945 tobte auf Okinawa eine der blutigsten Schlachten des 2. Weltkrieges. 12.500 US-Soldaten starben bei der Eroberung der Insel, auf der japanischen Seite fielen über 100.000 Soldaten, etwa 122.000 Zivilisten kamen zudem ums Leben, ein Drittel der Zivilbevölkerung. Ein Viertel der Insel besetzt das US-Militär bis heute. Aus den einstigen Feinden ist eine Zweckgemeinschaft entstanden. Die USA haben von Okinawa aus ihre Truppen im Korea- und Vietnamkrieg unterstützt und bis heute betreiben sie hier ihren größten militärischen Außenposten. Gleichzeitig profitiert Japan vom Schutz durch das US-Militär.
Den täglichen Übungsflügen der Kampfjets und Militärhubschrauber entkommen wir zumindest an einem Tag in der Tropfsteinhöhle Gyokusendo, 50 Meter unter der Erde. Die Welt – sie kann so friedlich sein.
Reise: Vom Grenzen überschreiten
Reisen verbindet Menschen miteinander. Im Prinzip steht uns die Welt offen. Aber es gibt Menschen, die nicht verreisen, weil ihnen die Möglichkeiten dafür fehlen, das Geld, die Infrastruktur. Im Jahr 2024 sind insgesamt 1,4 Milliarden Menschen touristisch gereist. Das sind zwar 50-mal mehr als noch 1950, aber nur etwa ein Sechstel der Weltbevölkerung. Vielleicht wäre unsere Welt eine friedlichere, wenn wir mehr Begegnungen durch Reisen schaffen, Grenzen passieren, aber auch akzeptieren würden. Was wir in Japan, Costa Rica, auf Gran Canaria und in Estland gelernt haben, haben wir in diesem Spezial aufgeschrieben. Denn Reisen bildet – auch davon zu lesen. Petra Welzel