Ausgabe 06/2025
Das Dilemma der ukrainischen Jugend

Während mein Kollege und ehemaliger Chefredakteur von "Tyzhden", Dmytro Krapyvenko, im Krieg ist (bereits im vierten Jahr), leite ich seit September zum vierten Mal einen Kurs für Masterstudierende im Journalismus an der Ukrainischen Katholischen Universität. Der Kurs wurde von Dmytro entwickelt, zwei Jahre lang war er der Dozent. Als ich vor bald vier Jahren seinen Kurs übernahm, war mir klar, dass es vielleicht nicht nur für ein Jahr sein würde. Aber nie hätte ich gedacht, dass es vier Jahre werden würden.
Gleichzeitig beobachte ich seither die Studierenden. Sie sind es, für die Dmytro und andere Soldaten (deren Durchschnittsalter bereits über 40 liegt) immer noch an der Front kämpfen. Immer sind es sehr interessante junge Persönlichkeiten, doch jetzt stelle ich fest: Gab es 2022 und 2023 noch ein paar Männer im Kurs, war es letztes Jahr nur noch ein junger Mann. Dieses Jahr ist keiner mehr dabei. In der Ukraine studieren in der Regel nur wenige männliche Studenten Journalismus, daher könnte ihre Abwesenheit in diesem Jahr einfach ein Zufall sein. Es gibt jedoch zahlreiche Argumente, die zu der Annahme führen, dass dies kein Zufall ist.
In der Ukraine wird immer häufiger darüber gesprochen, dass viele Eltern ihre Söhne schon während der Oberstufe der Schule ins Ausland "schicken". Auf genau diesen Umstand hat Präsident Selenskyj hingewiesen, als er Ende August die Entscheidung bekannt gab, die Ausreisebeschränkungen für 18- bis 22-jährige Männer aufzuheben. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs galt diese Beschränkung für alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, obwohl nur diejenigen, die älter als 25 Jahre waren, mobilisiert werden konnten. In den letzten zwei Jahren wurde daher viel darüber diskutiert, die Reisebeschränkung für die ganz jungen Männer aufzuheben. Aufgrund der Beschränkung kehrten nämlich viele junge Ukrainer, die im Ausland studierten, nicht nach Hause zurück, da sie irgendwann aufgrund ihres Alters nicht mehr zum Studium zurückkehren hätten können.
100.000 junge Männer vorübergehend weg
Die Zahlen nach den ersten zwei Monaten Aufhebung der Ausreisebeschränkung wirft nun weitere Fragen auf. Im September und Oktober haben fast 100.000 Männer im Alter von 18 bis 22 Jahren die Ukraine verlassen. Im September hat die EU die meisten neuen Genehmigungen für vorübergehenden Schutz in den letzten zwei Jahren erteilt, sodass einige junge Männer die Ausreise ins Ausland vermutlich nicht nur als vorübergehenden Wunsch betrachten, sich von schlaflosen Nächten in Luftschutzbunkern zu erholen.
In der Ukraine wird deshalb nach wie vor diskutiert, ob die Entscheidung des Präsidenten richtig war. Und obwohl auch ich die Folgen dieser Entscheidung aktuell sehe, halte ich sie langfristig immer noch für richtig. Erstens bietet sie jungen Menschen, die bereits im Ausland sind, die Möglichkeit, den Kontakt zur Ukraine aufrechtzuerhalten. So wie bei einer Bekannten, deren Sohn an einer rumänischen Universität studiert und dank der Änderung die letzten Tage seiner Ferien zu Hause verbringen konnte.
Zweitens wollen nicht alle jungen Leute, die ins Ausland gegangen sind, Migranten werden. Und drittens hoffe ich, dass jetzt nicht alle Eltern ihre Söhne ins Ausland "schicken" und ich auch wieder Jungs unter meinen Studierenden haben werde. Je länger die jungen Leute in der Ukraine bleiben, desto weniger werden sie sich für die Migration entscheiden.
Damit dieses positive Langzeitszenario jedoch funktionieren kann, muss sich in der Ukraine einiges ändern. Am schwierigsten ist aktuell trotz neuerlicher politischer Bemühungen für Frieden die Lage auf dem Schlachtfeld. Und die hängt nicht nur von Soldaten wie Dmytro ab, sondern auch von der Unterstützung der Ukrainer im Hinterland und der Partner im Ausland.
Olha Vorozhbyt ist stellvertretende Chef- Redakteurin des ukrainischen Nachrich- tenmagazins Ukrajinskyi Tyschden. Seit der Ausgabe 03_2022 schreibt sie regel- mäßig für uns ein Update aus der Arbeits- welt in der Ukraine.