Eine Briefzustellerin und Briefzusteller auf ihren Zustellfahrrädern im Regen
Für heute ist Schluss – eine Briefzustellerin und Briefzusteller machen FeierabendT.Seeliger/snapshot-photography

Wie wollen wir arbeiten? Die Frage danach ist immer auch mit der Frage verbunden: Wie wollen wir leben? Derzeit diskutiert Deutschland wieder einmal die Zukunft der Arbeitszeit – der aktuelle Stand ist: Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) will das Arbeitszeitgesetz umbauen, weg von der täglichen 8-Stunden-Höchstgrenze, hin zu einer reinen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden. Damit wären offiziell Arbeitstage von bis zu 13 Stunden erlaubt.

"Viele Beschäftigte arbeiten bereits jetzt an der Belastungsgrenze oder auch darüber hinaus. Mit einer Verlängerung der täglichen Arbeitszeit über acht Stunden hinaus bleibt keine Zeit mehr für Erholung und Regeneration, die Gesundheitsgefährdungen nehmen massiv zu", sagt Andrea Kocsis, stellvertretende ver.di-Vorsitzende. Gemeinsam mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund, DGB, hat ver.di deshalb die Kampagne "Mit Macht für die 8" gestartet. Und der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke sagte unlängst beim Besuch im ver.di-Bezirk Augsburg, sollte Merz das Arbeitszeitgesetz tatsächlich anfassen: "Das ist mit uns nicht zu machen."

15 Stunden außer Haus

Doch worum geht es rechtlich genau? Das Arbeitszeitgesetz garantiert bislang 8 Stunden pro Tag höchstens, ausdehnbar auf 10 Stunden – aber nur, wenn im Schnitt über mehrere Monate eben jene 8 Stunden nicht überschritten werden. Das ist kein Relikt aus Kohlebergbauzeiten, sondern ein notwendiger Schutz gegen Dauerstress. In der Kampagne der Gewerkschaften heißt das: "Der 8-Stunden-Tag ist kein Auslaufmodell – sondern ein Schutzschild!"

Auf einem der Kampagnen-Plakate sagt ein Kind: "Nach 8 Stunden gehören Mama und Papa mir!" – und bringt auf den Punkt, worum es geht: um Zeit, die nicht in Excel-Tabellen oder Pflegeschichten verschwindet. Astrid Füßler arbeitet als Verkäuferin im Supermarkt. Allein 12 Stunden arbeiten plus Pausen und Arbeitsweg – "da wäre ich 15 Stunden außer Haus, mir blieben neun Stunden zuhause, und die müsste ich eigentlich mit schlafen verbringen." Zeit für Familie und Freunde bliebe ihr so keine mehr.

Während Merz von "Flexibilität" schwärmt, zeigen Umfragen etwas völlig anderes: 81 Prozent der Beschäftigten in Deutschland stehen einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit laut dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung positiv gegenüber. Der DGB-Index Gute Arbeit vom Mai 2025 hat zudem ergeben: 93 Prozent wollen nicht länger arbeiten. Die 7 Prozent, die länger arbeiten würden, scheitern an unflexiblen Arbeitgebern oder an fest getakteten Arbeitsabläufen. Und: Im Jahr 2024 leisteten Beschäftigte in Deutschland ohnehin schon schätzungsweise 1,19 Milliarden Überstunden, davon 638 Millionen unbezahlt.

Dazu passt, was Studien zur Vier-Tage-Woche zeigen. Eine deutsche Pilotstudie unter Leitung der Universität Münster kommt zu einem klaren Befund: Weniger Arbeitstage bei gleichem Lohn erhöhen das Wohlbefinden deutlich – bei stabiler oder sogar leicht gesteigerter Produktivität. Auch internationale Studien – unter anderem eine in England schon 2022 durchgeführte in 61 Unternehmen mit knapp 3.000 Beschäftigten – berichten von weniger Stress, mehr Schlaf, besserer Gesundheit, ohne Einbrüchen bei den Unternehmensgewinnen.

Es ist die Realität, die der Kanzler betrachten sollte: Pflegekräfte, die sich heute schon durch 12-Stunden-Schichten hangeln, Callcenter-Beschäftigte, deren Kopf schon nach wenigen Stunden dröhnt, Fahrer*innen, die seit Jahren im Überstunden-Dauerlauf ausliefern. Michael Jakobs, Beschäftigter beim Hermes Paketversand, sagt es so: "Wenn der Fahrer, der nach 10 Stunden maximal fahren ohnehin schon übermüdet ist, noch längere Schichten schieben soll, der kann beim Abbiegen dann eventuell auch dein Kind auf dem Fahrrad erwischen und umfahren."

Die absolute Oberkante

Die Gegensätze könnten schärfer also kaum sein: Hier Studien, die zeigen, dass kürzere Wochen gesünder und für viele Firmen wirtschaftlich sinnvoll sind. Dort ein Regierungsprojekt, das Arbeitstage verlängern will, als gäbe es Burnout, Pflegenotstand und Fachkräftemangel nicht. Die Erfahrungen belegen unterdessen, dass Menschen besser arbeiten, wenn sie mehr freie zusammenhängende Zeit haben. Merz will hingegen, dass sie einfach länger durchhalten bei der Arbeit.

Tatsache ist: Der 8-Stunden-Tag ist die absolute Oberkante – nicht die Luxusgrenze. Er war immer als Formel gedacht: 8 Stunden arbeiten, 8 Stunden schlafen, 8 Stunden Freizeit. Wer an dieser Schraube dreht, dreht an der Gesundheit, an Familienzeit, auch an gesellschaftlicher und politischer Teilhabe. Und tut so, als sei alles nur eine Frage der Flexibilität.

Aus gewerkschaftlicher Sicht ist klar: Das Schutzschild muss verteidigt werden. "Mit Macht für die 8" ist nicht die nostalgische Verteidigung einer Zahl, sondern der Kampf um ein Minimum an Planbarkeit und Würde im Erwerbsleben. Eine kluge Debatte über Arbeitszeitverkürzung – inklusive Vier-Tage-Woche – kann aber erst dann ernsthaft beginnen, wenn die Vergangenheit in Form von 13-Stunden-Schichten nicht wieder herbei gewunken wird.

Denn am Ende steht eine simple Entscheidung: Soll Arbeit zumutbar bleiben – oder zum Dauerzustand werden? Der 8-Stunden-Tag markiert die Grenze. Wer sie verschiebt, verschiebt das Leben.

Mehr erfahren zur Kampagne unter kurzlinks.de/w65a