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Arthur Hackenthal erklärt den Verainfacher auf seinem HandyFoto: Johannes Franke/KOPF, HAND + FUSS

Arthur Hackenthal hat bis kurzem nichts gelesen, keine Zeitung, kein Buch: "Bücher waren für mich Briefbeschwerer." Dabei ist es keineswegs so, dass die Welt ihn nicht interessiert – im Gegenteil. Aber fast alle Texte waren ihm zu lang und zu schwierig. Doch jetzt gibt es die App namens "Verainfacher". Der 27-Jährige hat sie selbst mitentwickelt und ist sichtbar stolz. "Ich bin einer der Hauptakteure im Projekt," sagt der Mann mit Trisomie 21, der seit zwei Jahren bei KOPF, HAND + FUSS in Berlin angestellt ist. Alles, was ihn interessiert, ist jetzt für ihn zugänglich – zum Beispiel das Grundgesetz. "Es ist wie im Schlaraffenland." Hackenthal muss nur die App in seinem Smartphone öffnen, den Text fotografieren – und kurze Zeit später erscheinen auf dem Bildschirm drei oder vier kurze Sätze, die den Text zusammenfassen.

Ist sein Wissensdurst damit nicht gestillt, kann er weiterforschen. Mehrere vertiefende Fragen zu einzelnen Aspekten ploppen am unteren Bildschirmrand auf. Schwierige Worte lassen sich ebenfalls direkt anklicken und werden in einfacher Sprache erklärt. Reicht ihm das immer noch nicht, steigt er tiefer ein – bis sein Interesse am Text befriedigt ist. Wischt er nach unten, kann er auch noch Quizfragen zum Text beantworten, bei denen auch lustige und absurde Antworten auftauchen, die zum Schmunzeln einladen.

Gemeinsamer Lernprozess

Die Entwicklung des Verainfachers war ein gemeinsamer Recherche-, Such- und Lernprozess. Sieben Menschen haben daran gearbeitet. Hinzu kamen mehrere Wohngruppen mit Leuten, die zur zentralen Zielgruppe der App gehören und die Anwendungen immer wieder getestet haben. Gefördert wurde das Projekt durch die Aktion Mensch.

Den Hut auf bei der App-Entwicklung hatte Stefan Friese. Schon länger beschäftigte sich der 46-Jährige damit, wie vielfältiges Wissen für Menschen mit Lernschwierigkeiten zugänglicher wird. Am Anfang übersetzten einige aus seinem Team die Protokolle immer auch in Leichte Sprache. Dafür gibt es klare Regeln, die zum Beispiel Satzbau und -längen festlegen. Doch den Praxistest bestand dieses Vorgehen nicht. "Weiter viel zu lang", sagt Hackenthal. "Der Leseaufwand hat sich ja nicht reduziert – und oft wurden aus zehn Seiten zwanzig", ergänzt Friese.

Nach mehreren Experimenten wurde immer klarer: Allein im Gespräch gelingt es Personen wie Arthur Hackenthal, die Inhalte zu durchdringen. Allerdings steht nur selten jemand dafür zur Verfügung. Und dann tauchte Ende 2022 ChatGPT auf. Das Computerprogramm ermöglicht es, ähnlich wie mit einem Menschen zu kommunizieren. "Damit ließ sich das Problem der oft fehlenden Assistenz angehen", sagt Friese. Schließlich tut die Software genau das, was gebraucht wird – mit Nutzenden in einen Dialog treten.

Allerdings ist die Anwendung des Original-Programms für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu kompliziert. So kam die Idee auf, den gewünschten Text einfach abzufotografieren. Fünf Doppelseiten lassen sich auf einmal einlesen. Auch Regeln für Leichte und Einfache Sprache haben die Softwareentwickler in die App integriert. Seit diesem Herbst ist alles fertig – und Arthur Hackenthal ist jetzt nicht mehr darauf angewiesen, dass ein anderer Mensch ihm beim Verstehen hilft. Er selbst hat die Freiheit zu entscheiden, wann und was er lesen und herausfinden will.

Raus aus der Doofen-Ecke

Der Verainfacher ist die neuste Entwicklung von KOPF, HAND + FUSS, ein gemeinnütziges Unternehmen in Berlin-Wedding mit 15 Mitarbeitenden. Es entwickelt analoge und digitale Anwendungen für Menschen mit unterschiedlichen Bedarfen, damit sie möglichst ungehindert am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Gegründet hat es Stefanie Trzecinski – für sie eine Herzensangelegenheit. Ihr hörgeschädigter Vater nickte häufig, auch wenn er etwas nicht richtig verstanden hatte, weil er seine Behinderung nicht jedem auf die Nase binden wollte. "Viele Leute stellten ihn in die Doofen-Ecke", so Trzecinski.

Die gelernte Sonderschulpädagogin und IT-Expertin ist überzeugt, dass sehr viele Menschen unter ihrem Potenzial bleiben, weil gesellschaftliche Stereotype sie klein halten und sie keine geeignete Unterstützung bekommen. Nachdem sie einige Jahre lang als Managerin bei Microsoft gearbeitet hatte, wollte sie ihre beruflichen Fähigkeiten 2010 zusammenbringen.

KOPF, HAND + FUSS residiert in einer ehemaligen Fabriketage und betreibt dort auch einen Co-Working-Space. Der ist nicht nur barrierefrei zu erreichen, er bietet zudem Konferenztische unterschiedlicher Höhe, damit auch Rollstuhlfahrende oder Kleinwüchsige hier gut arbeiten können. Es gibt weiche Sessel für Spastiker*innen und ein flexibles Leitsystem für Blinde. An den Wänden hängen großformatige Werke eines Künstlers, der mit den Füßen fotografiert.

Der Schlüssel zur Inklusion

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Der Verainfacher als TorteFoto: Johannes Franke/KOPF, HAND + FUSS

Neben Programmen wie den Verainfacher produziert das 15-köpfige Team auch Videos und Tutorials, veranstaltet Workshops oder berät Firmen und Museen, wie sie inklusiver werden können. In allen Projekten sind Expert*innen in eigener Sache unmittelbar eingebunden. "Viele Kunden wünschen sich Checklisten," ist Trzecinskis Erfahrung. Doch das führt nicht zum Ziel, weil es die Komplexität der individuellen Bedarfe nicht berücksichtigen kann. Dazu zählen auch Personen mit psychischen Herausforderungen wie zum Beispiel einer Depression. Für sie ist es oft wohltuend, im Arbeitsalltag eingebunden zu bleiben – nur brauchen sie zwischendurch Pausen und Rückzugsorte.

Der Schlüssel sei, offen zu sprechen und herauszufinden, wie ein gutes Miteinander gestaltet werden kann, sagt Trzecinski. "Das muss immer beidseitig geschehen," betont sie. Schließlich kann das, was für einen Menschen hilfreich ist, einen anderen auch stören. So ermöglicht Dolmetschen in Gebärdensprache den Austausch von Gehörlosen und Hörenden in einer Videokonferenz – doch für Autisten sind die ständigen Bewegungen irritierend und belastend. "Sie haben dann in unseren Videokonferenzen das entsprechende Bild einfach abgeklebt", benennt Trzecinskis ein Beispiel für eine pragmatische Lösung.

"Es ist immer wichtig, nicht über uns zu reden, sondern mit uns."
Silja Korn, 59 Jahre, Erzieherin, ver.di-Mitglied und seit ihrer Jugend erblindet

Silja Korn ist in ihrer Jugend erblindet und eine erfahrene Inklusionsberaterin. Als Mitglied des Beratungsnetzwerks von KOPF, HAND + FUSS bringt sie sowohl ihr Fachwissen als auch ihre persönliche Perspektive ein. Sie war an der barrierefreien Gestaltung des Co-Working-Spaces beteiligt und unterstützt Ausstellungen dabei, sich mit Leitsystemen, Audiodeskription, Brailleschrift, Tastmodellen und sensibilisiertem Personal inklusiv aufzustellen. "Es ist immer wichtig, nicht über uns zu reden, sondern mit uns," betont die 59-Jährige. Dabei ist klar, dass nicht jedes Unterstützungsangebot von allen geschätzt wird: Blinde sind so individuell wie alle anderen Leute auch. "Ich gehe am liebsten mit anderen ins Museum, damit ich mich nicht auf die Wege konzentrieren muss."

Korn ist ver.di-Mitglied, Erzieherin und arbeitet an einer städtischen Kita in Berlin im Bereich Sprachförderung. Mit Unterstützung einer Assistentin hat sie nicht nur Farbkarten, sondern auch Bücher mit Brailleschrift versehen. So kann sie den Kindern die Geschichten vorlesen und lässt sich von ihnen die Bilder beschreiben. Angehenden Erzieher*innen verhilft sie mit Schlafmasken und Blindenstock zu praktischen Erfahrungen. Die Mutter eines Sohns ist sehr aktiv und kreativ. So hat sie auch ein Kinderbuch über eine blinde Mutter geschrieben und malt Bilder mit Pinsel, Spachtel, Schwamm und Naturmaterialien. Trotz Barrieren.

verainfacher.de