Warum eigentlich immer nur vor realen Werkstoren demonstrieren? Es gibt doch auch virtuelle Welten, in denen man gegen Lohnkürzungen etwas unternehmen kann. Eine Aktion gegen IBM auf der Internet-Plattform Second Life zeigt, wie es geht

Von Maik Söhler

Die Demonstranten gehen in die Zentrale von IBM Italien und schaffen es sogar bis ins Vorstands-Meeting

Ein Unternehmen, es handelt sich um IBM Italien, kündigt an, seinen Beschäftigten die jährliche Gewinnbeteiligung von rund 1000 Euro zu streichen. Die Belegschaft geht auf die Barrikaden. Und mit ihr die zuständige Gewerkschaft, die Rappresentanza Sindacale Unitaria (RSU). Man erstellt eine Resolution, alarmiert Unterstützer in aller Welt, erhält Solidaritätsadressen von anderen Gewerkschaften - auch ver.di ist dabei. Das Unternehmen aber will nicht hören.

Es kommt zu Protesten. Fast 2000 Teilnehmer werden mobilisiert. Sie demonstrieren vor den IBM-Niederlassungen, tragen Unterstützer-T-Shirts, halten Transparente hoch, bedienen ihre Trillerpfeifen. Kundgebungen werden abgehalten, Forderungen ans Management gestellt, das aber nicht reagiert. In der IBM-Geschäftsstelle kommt es zwischenzeitlich zu tumultartigen Szenen, als eine Protest-Delegation in ein Meeting leitender Angestellten platzt. Das Treffen wird abgebrochen. Am Ende sprechen die italienischen Syndikalisten und ihre Kollegen aus aller Welt von einem vollen Erfolg.

So weit, so typisch für eine gelungene gewerkschaftliche Aktion. Dann loggen sich alle aus und schalten das Gerät ab. Wie bitte? Ja, richtig: ausloggen, abschalten.

Das alles hat ganz real stattgefunden. Am 27. September 2007, von zehn Uhr morgens bis zehn Uhr abends. Aber protestiert wurde in erster Linie nicht vor den Werkstoren der italienischen IBM-Niederlassungen, sondern in der Computerwelt "Second Life".

"Man kann was bewegen"

Für alle jene, die es noch nicht kennen, zur Erläuterung: Second Life ist eine virtuelle Welt im Internet. Wer will, kann sich mit einer Stellvertreterfigur hineinbegeben. Man kann diese Figur nach den eigenen Wünschen gestalten, sie mit anderen Figuren in Kontakt kommen lassen - durch Sprache und Mails - oder sie ein Grundstück kaufen lassen. Solche Figuren werden in Second Life Avatare genannt.

"Verlassen Sie das Gebäude!"

Sie laufen, fliegen oder lassen sich teleportieren, wohin man will. Second Life ist groß, es gibt viel zu entdecken und jede Menge andere Avatare tummeln sich darin herum. Zu den Hochzeiten von Second Life waren es Millionen. Das zog Unternehmen und Organisationen an, die diese Avatare ansprechen wollten. Staaten gründeten virtuelle Botschaften, Firmen entwickelten Online-Niederlassungen, um Geld wie im Spiel zu verdienen, und auch ver.di machte hier schon mal für Mindestlöhne mobil. Second Life versammelt einen bunten Reigen an Aktivitäten.

Für all jene, die es schon kennen, zur Ergänzung: "Man kann hier etwas bewegen." Das ist das Fazit der Proteste, und das sagt auch Annette Showell-Moosbrugger, eine ver.di-Mitarbeiterin aus Berlin, die seit Jahren in einem Netzwerk von Webmastern und Internetredakteuren aus Gewerkschaften in aller Welt aktiv ist. Für sie war es selbstverständlich, auch in Second Life für die Rechte der Beschäftigten einzutreten. 1850 reale Menschen aus über 30 Ländern, die am 27. September ihre Avatare zu den sieben in Second Life platzierten IBM-Niederlassungen schickten, dürften ihr mit dieser Aussage Recht geben.

Annette Showell-Moosbrugger ist begeistert. Sie erzählt von Gewerkschaftern, die sich extra für diesen Anlass bei Second Life angemeldet haben, von Leuten, die ihre Avatare aus Solidarität zu den Protesten schickten, obwohl sie gar keine Gewerkschafter sind.

Ausloggen und ... abschalten

Und sie erzählt von den Aktionen selbst. Wie Avatare in Streik-T-Shirts ihre Schilder hoch hielten, auf denen die Rücknahme der Streichung der Leistungsprämie gefordert wurde; wie Kundgebungen abgehalten und Gespräche geführt wurden - meistens auf Englisch und Italienisch; wie sich Teilnehmer per Instant Messenger und auf Zuruf immer wieder neu formierten; wie Avatare die Second Life-Filiale der Nachrichtenagentur Reuters besuchten, um noch mehr Öffentlichkeit zu schaffen; wie hinterher mit virtuellem Sekt angestoßen wurde und portugiesische Kollegen ankündigten, demnächst erneut in Second Life aktiv zu werden. "Das ist eine gute Ergänzung für das reale gewerkschaftliche Engagement", schließt sie.

Erfolg auf der ganzen Linie

Die Idee für die Aktion kam von der italienischen RSU und von Christine Revkin. Sie ist Mitarbeiterin der internationalen Gewerkschaftsinitiative Union Network International (UNI). "Das alles war sehr neu für uns, sehr überraschend, und einige Male mussten wir improvisieren." Etwa als einige Avatare sich ins IBM Business Center teleportierten und mitten in eine Konferenz von Manager-Spielfiguren platzten, die dort Geschäftliches besprachen.

"Plötzlich sprangen die Gewerkschafts-Avatare dort auf dem Tisch herum, und die Manager riefen immer nur: ,Verlassen Sie bitte das Gebäude'. Wir aber haben gefordert, mit der Firmenleitung zu sprechen. Da mussten sie die Konferenz abbrechen." Man merke: Avatare sind auch nur Menschen; rückt man ihnen in ihrem Revier auf den Pelz, zeigen sie Nerven und reagieren. Das erste Ziel, in Second Life gegen IBM zu mobilisieren, habe man erreicht, sagt Revkin. Inzwischen darf sie sich über den vollen Erfolg freuen. Nach der virtuellen Protestaktion war Mitte Oktober zunächst Andrea Pontremoli, Chef von IBM Italien, zurückgetreten, was die Luft für neue Verhandlungen klärte. Inzwischen wartet ein neues, von IBM Italien und der RSU bereits unterzeichnetes Vertragswerk auf die Unterschriften der italienischen Beschäftigten. Der Vertrag sieht unter anderem die Wiedereinführung der Leistungsprämie vor, die zuvor von IBM gestrichen worden war.

Alles im Netz

Rappresentanza Sindacale Unitaria (RSU): www.rsuibmvimercate.it

Union Network International (UNI): www.union-network.org

Das Weblog zum Protest: http://ibmslprotest.blogspot.com

Bilder zum Protest: www.4shared. com/dir/4005252/4f71bfa5/ BestEditedHighResPix.html

Second Life: http://secondlife.com

IBM Italien: www.ibm.com/it/