Der Lebenswerker

1997 verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig den ersten Stolperstein vor einem Berliner Haus - ohne Genehmigung. Mittlerweile erinnern bundesweit 17000 Messingblöcke an die Opfer des Holocausts. Über einen politischen Künstler mit langem Atem

VON HEIKE LANGENBERG

"Ich wollte die Namen zurückbringen. Im KZ waren sie Nummern."

"Hier wohnte David Tasselkraut" steht auf der glänzenden Messingplatte. Sie erinnert an einen einstigen Bewohner des Hauses in der Gartenstraße 4 im brandenburgischen Luckau. 1942 wurde der Arbeiter wegen seiner jüdischen Herkunft deportiert. Am 8. Februar 1943 erfror er in Auschwitz.

Dass die Erinnerung an Tasselkraut in Luckau im September dieses Jahres wieder geweckt wurde, liegt an einem Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig (61). Er verlegt seit acht Jahren bundesweit so genannte Stolpersteine: Zehn mal zehn Zentimeter große Blöcke mit Messingplatten, auf denen Daten aus dem Leben von Opfern des Naziregimes eingestanzt sind. Steine, die die Erinnerung wach halten, dass in der Nachbarschaft Juden, Gewerkschafter, politisch Verfolgte oder Homosexuelle gelebt haben. "Soziale Skulpturen", nennt sie Demnig. Skulpturen, die Menschen zusammenbringen, sei es im gedanklichen Stolpern über den Stein oder bei der Vorbereitung der Verlegung. Örtliche Initiativen recherchieren den Hintergrund der Opfer, beantragen die Verlegung bei den Behörden und nehmen Kontakt mit Demnig auf. Viele von ihnen sind mittlerweile vernetzt.

Die Namen zurückbringen

Sich selbst nennt Demnig einen "Menschen mit politischem Bewusstsein". 1967 beginnt er, in Berlin Kunstpädagogik zu studieren. Zu dieser Zeit entdeckt er Fotos seines Vaters, die ihn beim Einsatz mit der Legion Condor 1936 im spanischen Bürgerkrieg zeigen. Ein Gespräch mit ihm über diese Zeit sei nie möglich gewesen. Das, die Studentenunruhen und der Vietnam-Krieg hätten ihn geprägt.

Anfang der siebziger Jahre stellt Demnig in einem Schaufenster eine amerikanische Flagge aus, die Sterne hat er durch Totenköpfe ersetzt. Das bringt ihm einen halben Tag Haft. Und eine Erkenntnis: "Kunst kann direkt etwas bewirken, wenn sie im öffentlichen Raum stattfindet oder präsentiert wird."

Die Idee zu den Stolpersteinen entsteht Anfang der neunziger Jahre. In Köln verbindet Demnig mit einer Spur aus Fassadenfarbe die Wohnhäuser von Sinti und Roma mit dem Deutzer Bahnhof. Von dort aus sind sie deportiert worden. Bei diesem Projekt spricht eine ältere Frau den Bildhauer an. Sie könne sich nicht erinnern, dass dort Sinti und Roma gelebt hätten. "Das war mein Auslöser. Ich wollte die Namen zurückbringen. Im KZ waren sie Nummern", erinnert sich Demnig. Nichts Monumentales, nichts Abstraktes, sondern mit schlichten Steinen.

Die ersten zeigt er in einer Kölner Kirche. Der Plan, sie zu verlegen, scheiterte an der Bürokratie. Anträge wurden nötig, von Rutschgefahr und Bauordnungen war die Rede. "Nach drei Jahren hatte ich die Schnauze voll", sagt Demnig. Er hatte sich schon fast damit abgefunden, dass das Projekt in einem Aktenordner enden würde.

Die ersten Stolpersteine kommen 1997 in Berlin-Kreuzberg ins Pflaster. "An eine Genehmigung haben wir damals nicht gedacht", sagt er und grinst. Drei Monate später sollen Bauarbeiter den Platz aufreißen. "Aber das ist doch Kunst, haben die zu ihrem Vorarbeiter gesagt", wird Demnig berichtet. Kunst, die nirgendwo verzeichnet war. Kunst, die ihm aufgrund einer Ausstellung sofort zugeordnet wurde. Kunst, die in Kreuzberg zu einem Beschluss der Bezirksversammlung führt, für alle Opfer Stolpersteine legen zu lassen.

Knapp 17000 Stolpersteine hat der Bildhauer bislang verlegt. Luckau ist die 356. Gemeinde in Deutschland. Mittlerweile kommen auch Anfragen aus dem Ausland, aus Ungarn, Österreich, Norwegen oder Frankreich. So hat Demnig sich sein Kunstprojekt vorgestellt: Eines, das europaweit an alle Nazi-Opfer erinnert. Eines, das Teil des Alltags ist.

Ein umstrittenes Projekt

Dass er als Künstler inzwischen auf die Stolpersteine festgelegt ist, macht Demnig kein Problem. "Das ist mein Lebenswerk." Er will weitermachen, bis es irgendwann nicht mehr geht, sagt er. Und greift sich dabei an den Rücken, der nach langen Tagen des Verlegens manchmal schmerzt.

Demnig ist viel unterwegs, Woche für Woche, seit Mai 2007 knapp 65000 Kilometer. Wenn es seine Zeit zulässt, nutzt er Landstraßen, hört dabei meist Nachrichten und guckt sich die Gegend an. "Es gibt überall schöne Ecken, insbesondere im Süden, dort, wo Wein angebaut wird." Gelassen wirkt er, wie jemand, der sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lässt.

In seinem roten Kleintransporter hat Demnig sein Werkzeug und die Stolpersteine, die er bei der jeweiligen Tour verlegen will. "Wir schaffen niemals Steine für alle Opfer", sagt Gunter Demnig. Anfragen gibt es genug. Darüber nachgedacht, das Projekt auszuweiten, hat er - doch würde ihm der Kontakt fehlen, zu den Initiativen vor Ort, zu Schülergruppen, die sich mit dem Leben der Verfolgten auseinandersetzen, zu Angehörigen. "Ich will nicht nur am Schreibtisch sitzen." Er fährt lieber weiter, zieht einen Schoner über sein rechtes Knie und entfernt Pflastersteine aus Bürgersteigen. Seine Steine legt er in Schnellbeton, gießt Wasser darauf und wischt sie zum Abschluss beinah zärtlich mit einem Papiertaschentuch blank.

Sein Projekt ist umstritten. Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, sagt, die Opfer würden ein zweites Mal entehrt, weil man auf ihnen herumtrampele. Aus diesem Grund gibt es auch in München noch keine Stolpersteine auf öffentlichem Gelände. Knoblochs Vize Salomon Korn hingegen befürwortet das Projekt. So werde Geschichte begehbar gemacht. "Natürlich können Glatzen mit ihren Springerstiefeln darauf herumtreten. Aber je mehr sie trampeln, desto blanker werden die Steine", sagt Demnig.

Man spürt eine Art klammheimlicher Freude, dass die Steine Angriffen meist widerstehen. Er erzählt von Hamburg, wo Unbekannte Stolpersteine mit roter Farbe übergossen und Anwohner sie sofort wieder abgewischt hätten. Die eingestanzte Schrift sei durch die Farbreste noch besser lesbar.

Demnig meint nicht, dass Passanten auf den Toten herumtrampeln. Im Gegenteil. Wer die Inschrift lesen wolle, müsse sich vor ihnen verbeugen.

Gunter Demnig,

geboren 1947 in Berlin. Studiert Kunstpädagogik und Freie Kunst in Berlin und Kassel. Hat seit 1985 ein Atelier in Köln. 1993 entwirft er das Stolperstein-Projekt. Dafür erhielt er Auszeichnungen wie die Herbert-Wehner-Medaille von ver.di Hamburg (2004), das Bundesverdienstkreuz (2005) oder die des Botschafters für Demokratie und Toleranz (2008). "Auch wenn ich die Preise entgegen nehme, gehen sie an alle Initiatoren von Stolpersteinen. Gerade in kleinen Orten helfen sie den Initiativen, wenn sie Genehmigungen für die Verlegung von Stolpersteinen beantragen", sagt Demnig. Am 6. November läuft der Dokumentarfilm Stolperstein von Dörte Franke bundesweit in den Kinos an. www.stolpersteine.com