Einkaufszentren auf der grünen Wiese wetteifern mit Konsumtempeln in den Innenstädten, Discounter drehen die Schrauben im Unterbietungswettkampf. Die Preise purzeln - häufig zu Lasten der Arbeitsbedingungen und Qualität der Produkte. Wohin geht es mit einer Branche in struktureller Dauerkonkurrenz?

VON JÜRGEN GLAUBITZ

Der deutsche Einzelhandel bietet eine riesige Vielfalt an Geschäften, Vertriebswegen und Verkaufsformen. Das Spektrum reicht von Aldi bis Zara, vom kleinen Selbständigen bis zum Weltkonzern, vom Wühltisch bis zur Edel-Boutique, vom Supermarkt bis zum Versender, vom Weltstadtwarenhaus bis zu Mäc Geiz, vom Laden um die Ecke bis zum anonymen Online-Händler.

Derzeit findet ein tief greifender Umbruch statt. Insolvenzen und Betriebsschlie-ßungen auf der einen Seite – Neueröffnungen und Eigentümerwechsel auf der anderen. Die "größte Bühne der Welt" wird kräftig umgebaut. Ehemalige Hauptdarsteller wie etwa die Warenhäuser spielen heute nur noch Nebenrollen; neue Akteure, vor allem Discounter und Online-Handel, haben sich in den Vordergrund gedrängt.

Die Musik im Einzelhandel wird von ein paar Großen gemacht. Rund ein Dutzend Konzerne beherrscht die Szene. Sie kämpfen mit harten Bandagen um die Gunst des Publikums. Es herrscht Verdrängungswettbewerb. Die Methoden sind ruppig und die Sprache kriegerisch: Von Kannibalismus, Preiskrieg, Vernichtungskämpfen und Rabattschlachten ist die Rede.

Man muss kein Prophet sein

Die Handelskonzerne haben immer mehr Verkaufsflächen geschaffen. Neue großflächige Betriebe wurden zusätzlich eröffnet, vor allem auf der grünen Wiese, insgesamt 120 Millionen Quadratmeter bis 2009. Viel zu viele, denn die Massenkaufkraft konnte dem nicht folgen. Nirgendwo in Europa gibt es pro Kopf der Bevölkerung so viel Verkaufsfläche wie bei uns. Der Vernichtungswettbewerb kommt also nicht von ungefähr: zu viel Flächen, stagnierende Nachfrage und Finanzierungsprobleme in Folge der Finanzkrise. Man muss kein Prophet sein um vorauszusagen, dass es weitere (prominente) Opfer geben wird.

In kaum einem anderen Land ist der Konkurrenzkampf im Einzelhandel so intensiv wie bei uns - und die Verkaufspreise sind entsprechend niedrig. Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Der Verdrängungskampf führt zu einem massiven Ladensterben - dadurch werden die Wege zum nächsten Geschäft länger. Betroffen davon sind vor allem die älteren Menschen. Doch im Zug dieses Ladensterbens geht auch die Vielfalt Stück für Stück verloren. Viele Einkaufsstraßen gleichen sich heute schon wie ein Ei dem anderen.

Niedrige Preise im Verkauf werden meist durch Tarif- und Sozialdumping im Handel und in der Produktion subventioniert. Hungerlöhne, Kinderarbeit in der 3. Welt oder Formen brutaler Ausbeutung in der Obst- und Gemüseherstellung seien als Beispiele genannt. Und nicht zuletzt bedeutet Preiskrieg oft auch die Gefahr von Qualitätseinbußen: bleiverseuchtes Kinderspielzeug und Skandale um Gammelfleisch sind alles andere als "bedauerliche Ausnahmen".

Was Handelsunternehmen bei den Verkaufspreisen an Profit einbüßen, versuchen sie durch Kürzungen gegenüber den Herstellern und beim Personal wieder auszugleichen. Der Druck in den Betrieben ist enorm gestiegen. Einige Unternehmen versuchen sich so zusätzliche Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.

Gute Aussicht für Discounter

Wird der Trend zu immer mehr Discount und anonymer Massendistribution anhalten? Gibt es in Zukunft noch mehr Stress und Hektik im Verkauf und an den Kassen? Werden die Beschäftigten nur noch als lästige Kostenfaktoren gesehen und behandelt? Fakt ist, dass der Anteil einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen in Deutschland stark gestiegen ist und weiter wächst. Die Gründe dafür sind bekannt: riesiger Niedriglohnsektor, Zunahme der prekären Beschäftigung, Massenarbeitslosigkeit, wachsende Altersarmut. Dementsprechend günstig sind die Chancen der preisaggressiven Vertriebsformen einzuschätzen.

Gleichzeitig gibt es Kräfte, die dem entgegenwirken. In Folge der demographischen Entwicklung steigt zunehmend der Anteil älterer Konsumenten. Diese suchen meist nach einem breiten Warenangebot "unter einem Dach" in Wohngebietsnähe. Sie suchen zudem die Atmosphäre kleinerer Geschäfte und persönlicher Bedienung statt die Anonymität und Hektik der modernen "Verkaufsmaschinen".

Einkaufen wird für einen noch relativ kleinen, aber wachsenden Teil der Konsumenten auch zu einem politischen Akt. Für sie ist Konsum mehr, als möglichst billig einzukaufen. Es geht ihnen um die Qualität der Waren, es geht ihnen um die Arbeitsbedingungen bei der Produktion dieser Produkte. Umweltfreundliche Unternehmen und faire Arbeitsbedingungen zu unterstützen, ist für sie zu einem wichtigen Anliegen geworden. Untersuchungen taxieren diesen Anteil zwischen fünf und 15 Prozent. Damit eröffnen sich für den Handel neue Chancen, zum einen für eher bedienungsorientierte Vertriebsformen, zum anderen für innerstädtische und wohngebietsnahe Standorte.

Noch mehr Verkaufsflächen

Die riesige Flächenüberkapazität erweist sich als Kernproblem des Einzelhandels. Mit Appellen an die Vernunft der Unternehmen ist es nicht getan. Hier ist die Politik gefordert. Einige Länder und Regionen haben auf Grund des gewachsenen Problemdrucks reagiert und Steuerungsinstrumente entwickelt, mit denen die Expansion auf der grünen Wiese eingedämmt werden kann. Damit steigen die Chancen für eine Revitalisierung der Innenstädte.

Allerdings ist das Problem der Flächenüberkapazität damit nicht gelöst, denn es gibt nun einen regelrechten Boom der innerstädtischen Einkaufszentren. Damit steigen einerseits die Chancen, dass sich die Attraktivität des Standortes Innenstadt wieder erhöht, andererseits kommt es durch den Bau riesiger Einkaufszentren nun zu einem neuen Schub an zusätzlichen Flächen. Darüber hinaus entsteht die ernste Gefahr, dass sich solche Zentren negativ auf die gewachsenen innerstädtischen Strukturen auswirken.

Es mangelt nach wie vor an überzeugenden Steuerungsinstrumenten und - vor allem - an engagierten Politikern, die bereit sind, sich um die Belange des Einzelhandels und seiner Beschäftigten zu kümmern. Dies wurde zuletzt beim "stillen Sterben" von Hertie offenkundig. Und dies wird erst recht im Zusammenhang mit der Arcandor-Insolvenz deutlich.

Positive Perspektiven für den Einzelhandel fallen nicht vom Himmel - sie müssen erkämpft werden. Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen können letztendlich nur von den Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft ver.di durchgesetzt werden. Zu den elementaren Kernpunkten zählt eine selbstbewusste und durchsetzungsstarke Interessenvertretung in den Betrieben und Unternehmen. "Betriebsratsfreie Zonen" zahlen sich für die Arbeitgeber aus, denn Personalkosten lassen sich am besten drücken, wenn niemand da ist, der sicherstellt, dass die verbrieften Rechte der Beschäftigten wahrgenommen werden. Dies verschafft einzelnen Arbeitgebern Wettbewerbsvorteile und erhöht den Konkurrenzdruck in der gesamten Branche. In solchen Unternehmen geht es darum, betriebliche Interessenvertretungen durchzusetzen. Neben der Unterstützung der Betriebsratsarbeit und einer aktiven Tarifpolitik gilt es für ver.di, neue Wege zu beschreiten bzw. weiter auszubauen. Dazu zählen Elemente von Organizing, Grundsätze der Kampagnenarbeit sowie Netzwerk- und Bündnisarbeit.

Veränderung zum Besseren

Einzelhandel sollte mehr sein als seelenlose Massendistribution, mehr als Schnäppchenjagd, homeshopping, Self-Scanning oder Do-it-yourself. Einzelhandel bedeutet auch ein Stück Lebensqualität in Wohngebietsnähe und Innenstädten. Zu einem zukunftsorientierten Einzelhandel gehört ein räumlich ausgewogenes und bürgernahes Ladennetz mit einem überschaubaren Angebot, das den kurzfristigen, auch gehobenen Bedarf abdeckt. Dazu gehört vor allem ein fairer Umgang mit den vielen Menschen, die diese Dienstleistung erbringen: Soziale und tarifliche Standards müssen deshalb gleichermaßen für alle Arbeitnehmer/innen in der Branche gelten.

Viele Arbeitgeber behandeln ihre Beschäftigten wie störende Kostenfaktoren: Während sie sich in Rabattschlachten überbieten und die Kunden mit Niedrigpreisen verwöhnen, verweigern sie ihren Beschäftigten einen angemessenen Lohn und die verdiente Anerkennung. Das ist nicht zu akzeptieren - schon gar nicht in einer Dienstleistungsgesellschaft. Aufgabe von ver.di ist es, diese Missstände aufzudecken und abzuwenden. Und es geht auch darum, in den Bereichen stärker Fuß zu fassen und gewerkschaftliche Kraft zu entwickeln, die in den letzten Jahren am stärksten gewachsen sind.

Eine Veränderung hin zum Besseren braucht auch die Unterstützung von Millionen Kunden, denen Menschen- und Arbeitsrechte mehr wert sind als ein paar gesparte Euro. Die Verbraucher/innen - zumindest diejenigen, die es sich leisten können - haben es in der Hand: Sie entscheiden durch ihr Kaufverhalten mit darüber, ob es im Einzelhandel und bei der Herstellung fair zugeht oder nicht.

Und schließlich ist die Politik gefordert. Wenn Parteien und Parlamente monatelang öffentlich über die Zukunft von Opel debattieren, sollte womöglich noch etwas Zeit übrig sein, sich über die Zukunft einer der größten Branchen Gedanken zu machen. Auch wenn es sich dabei "nur" um eine Frauenbranche handelt.

Vom Autor gibt es beim ver.di Bundesfachbereich Handel die Broschüre Von Konzernen, Kunden und "Kostenfaktoren" – Der deutsche Einzelhandel im Umbruch. Fakten – Probleme - Perspektiven. http://handel.verdi.de/branchenpolitik