Da ist noch viel Bewegung drin

KLAUS DÖRRE ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Als die Gewerkschaften unlängst den 60. Jahrestag des DGB feierten, konnten sie einen Stimmungswandel registrieren. Vorbei die Zeit, da sie als notorische Reformverhinderer an die Wand genagelt wurden. Die globale Wirtschaftskrise vor Augen, wissen selbst konservative Politiker, dass sie die Arbeitnehmerorganisationen brauchen. Und so ernten die Gewerkschaften Anerkennung von ungewohnter Seite. Selbst Frau Merkel hat es eilig mit der Versicherung, eine schwarz-gelbe Regierungskoalition werde elementare Arbeitnehmerrechte unangetastet lassen.

Sind das schon Anzeichen für ein Comeback der Gewerkschaften? So angenehm die aktuellen Lobpreisungen auch sein mögen: Einen Fahrplan in die Zukunft bieten sie nicht. Gegenwärtig häufen die Gewerkschaften vor allem symbolisches Kapital an. Im Gegenzug für ihre pragmatische Krisenbewältigungspolitik erhalten sie ein wenig von jener institutionellen Macht zurück, die noch in jüngster Vergangenheit akut gefährdet schien. Befriedigt können Gewerkschafter feststellen, dass viele ihrer Argumente zur Regulierung der Finanzmärkte, zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik inzwischen wieder den Mainstream der Politik erreichen. Und sie können darauf vertrauen, dass den hiesigen Eliten ein wenig gewerkschaftliche Beteiligung an der Macht allemal lieber ist als Bossnapping, soziale Unruhen und Generalstreiks.

Doch man sollte sich nicht täuschen. Ähnlich wie mit den Finanzmarktakteuren, die bereits wieder 25-prozentige Renditen anpeilen, könnte es den Gewerkschaften schon bald mit den politischen Eliten ergehen. Ist das Schlimmste erst einmal überwunden, stehen harte Verteilungskämpfe an. Und es gehört nicht sehr viel an seherischen Fähigkeiten dazu, um zu prophezeien, dass der neu gewonnene Kredit der Gewerkschaften bei der politischen Klasse rasch aufgebraucht sein wird. Denn zur Gewerkschaft, die in klassischer Weise zwischen System- und Mitgliederinteressen vermittelt, führt so schnell kein Weg zurück. Nur wenn es gelingt, die derzeit günstige Großwetterlage in neue Mitglieder, in größere betriebliche und gesellschaftliche Konfliktfähigkeit zu übersetzen, wird man von einem Comeback der Gewerkschaften sprechen können.

Strategische Optionen für eine gewerkschaftliche Erneuerung sind reichlich vorhanden. In Betrieben und Verwaltungen schreien Leistungsverdichtung und wachsende psychische Belastungen geradezu nach einer Politik, die an der Arbeitsqualität ansetzt. Für den wachsenden Sektor prekärer Beschäftigung haben die Gewerkschaften ver.di und NGG mit ihrer Mindestlohnforderung Pionierarbeit geleistet. Gewerkschaftsgliederungen haben begonnen, im IT-Sektor, in Kliniken und im Handel offensive Konzepte zur Mitgliedergewinnung zu erproben. Und auch die wachsende Zahl von Arbeitskämpfen, darunter Berufsgruppen wie die Erzieherinnen, belegt, dass noch Bewegung steckt in den Gewerkschaften. Das alles sind erste Pflänzchen einer Erneuerung, die notwendig ist, um Antworten auf die großen Fragen der vor uns liegenden Jahrzehnte zu finden. Schon jetzt ist klar, dass einstige Leitbranchen des „Modell Deutschland” wie die Automobilindustrie und der Maschinenbau vor tiefgreifenden Umwälzungen stehen.

Bei solcher Ausgangslage setzt in Großorganisationen, auch bei Gewerkschaften, häufig ein Reflex ein, sich auf Bewährtes zu konzentrieren. Doch nichts wäre problematischer als organisationspolitischer Konservatismus. Stattdessen müssen die zarten Pflänzchen der Erneuerung gehegt werden, damit sie sich zu kräftigen Trieben entwickeln. Das wird nur gelingen, wenn sich die Gewerkschaften auf einen Spagat einlassen. Natürlich ist in Krisen auch Pragmatismus gefragt. Doch große Probleme verlangen nach großen Antworten. Organizing etwa ist kein Rekrutierungsinstrument, sondern eine politische Methode, die die Sinnfrage „Wozu Gewerkschaften?” für potentielle Mitglieder zu beantworten hat. Erstaunlich ist auch, welche Karriere das fast vergessene Wort Wirtschaftsdemokratie in jüngster Zeit gemacht hat. Wirtschaftsdemokratie ist ein Ansatz, der auf die Systemfrage reagiert, die der krisenhafte Finanzmarktkapitalismus selbst aufgeworfen hat. Was Wirtschaftsdemokratie heute ist, was sie leisten kann, muss neu definiert werden. Die Gewerkschaften sind gut beraten, wenn sie diese Chance zur Tilgung einer programmatischen Leerstelle offensiv nutzen.

Die Gewerkschaften können darauf vertrauen, dass den hiesigen Eliten ein wenig gewerkschaftliche Beteiligung an der Macht allemal lieber ist als Bossnapping, soziale Unruhen und Generalstreiks