Ein neues Buch von ver.di und NGG zeigt, wie es sich mit einem Niedriglohn in Deutschland lebt. Wir dokumentieren drei Beispiele

Susanne Berger, 36

Call-Center-Agentin in Berlin

Ich arbeite seit fünf Jahren im Call-Center und bekomme acht Euro brutto die Stunde. Wir sind rund 50 Telefonkräfte in einem Großraumbüro. Die Arbeit ist sehr anstrengend: Du wirst permanent beschallt, denn du musst den Kopfhörer sehr laut einstellen, damit du die Kunden überhaupt verstehst. Du merkst es erst nicht, aber nach und nach gehen deine Ohren kaputt. Dazu kommt die schlechte Hygiene: An den Kopfhörern hängt der Ohrenschmalz der Kollegen, die Tastaturen sind verdreckt, die Luft im Raum ist extrem trocken. Die Folge ist, dass du dir ständig neue Krankheiten einfängst.

Da kommst du nicht mehr raus

Wir machen sogenannte Kalt-Akquise für bekannte Unternehmen. Das bedeutet: Wir rufen Menschen an, deren Telefonnummern unser Arbeitgeber irgendwo gekauft hat, und versuchen sie zu einem Termin mit einem Vertreter zu überreden. Man hat immer ein schlechtes Bauchgefühl, weil man oft lügen muss. Ein Standardsatz ist zum Beispiel: "Der Kollege ist gerade vor Ort." Für einen anderen Arbeitgeber habe ich früher Zeitungsabonnements verkauft. Da haben wir den Leuten erzählt: "Sie haben bei einem Gewinnspiel ein Auto gewonnen!" Tatsächlich ging es aber darum, den Menschen ein Abo zu verkaufen. Letztlich ist das Betrug. Hinzu kommt der Druck: Wenn du nicht genug Abschlüsse machst, fliegst du raus.

Wenn ich eine Alternative hätte, würde ich sofort aufhören. Aber ich finde keinen anderen Job. Wenn du einmal im Call-Center angefangen hast, ist dein Lebenslauf versaut. Dann kommst du da nicht mehr raus. Das Arbeitsamt schickt dich wieder und wieder dorthin, weil die immer Personal brauchen.

Zum Glück verdient mein Partner mehr als ich - sonst könnten wir uns und meine drei Kinder niemals ernähren. Wir zahlen ja schon fast 900 Euro allein für die Wohnung. Damit ist mein Einkommen so gut wie aufgebraucht: Ich bekomme 960 Euro netto im Monat raus.


Angela Müller, 41

auf Jobsuche in Düsseldorf

In einem Aushang vor meinem Supermarkt las ich, dass sie dort Leute suchen zum Regal auffüllen. Ich rief an und wurde gleich zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Bei dem Gespräch stellte sich heraus, dass ich nicht für den Supermarkt arbeiten sollte, sondern für eine andere Firma. Am nächsten Tag hatte ich meinen ersten Probe-Arbeitstag. Nach diesem Probetag sollte ich einen Arbeitsvertrag bekommen. Über das Gehalt wurde erst mal nicht gesprochen. Der Chef sagte: "Da werden wir uns schon einig." Als ich meine neuen Kollegen nach dem Lohn fragte, bekam ich nur vage Auskünfte. Vom Chef erfuhr ich schließlich, dass ich nicht nach Stunden bezahlt wurde, sondern nach der Anzahl der Rollwagen ("Rolli"), von denen wir die Ware in die Regale packten. Die Rollis wurden von Teams entladen. Jedes Team bestand aus fünf Mitarbeitern, pro entladenem Rolli gab es 5,50 Euro. Für sieben Stunden harte Arbeit bedeutete das am Ende einen Lohn von 13 Euro pro Nase - das sind nicht mal zwei Euro die Stunde! Als ich am nächsten Tag erfuhr, dass wir pro Rolli nur 4,20 Euro bekommen sollten, weil wir die Ware nicht aus dem Lager vorziehen mussten, verließ ich ohne Zögern den Supermarkt.

Das ist Ausbeutung!

Später erfuhr ich von der Vorarbeiterin, dass sie 300 Euro im Monat verdient - in Vollzeit. Wer sich beschwert, berichtete sie mir, wird sofort rausgeschmissen. Gleiches gelte für die, die nicht kommen, wenn sie an ihrem freien Tag zur Arbeit gerufen werden. Einen Monat später traf ich die Frau noch mal auf der Straße. Sie hatte Probleme mit dem Knie bekommen - und war sofort gekündigt worden.

Ich will gerne arbeiten - aber nicht unter solchen Bedingungen. Das ist Ausbeutung! Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas in Deutschland möglich ist - und dass eine große, bekannte Supermarktkette solche Zustände in ihren Räumen duldet.


Sabine Ferne, 34

heute selbstständige Bookerin in Köln

Das Praktikum bei der großen Kölner Künstleragentur war bereits das vierte, nachdem ich mein Studium der Medienwissenschaften abgeschlossen hatte. Eine Freundin hatte mir den Tipp gegeben, mich zu bewerben. Zwar bekam ich das erste halbe Jahr nur 100 Euro "Aufwandsentschädigung" monatlich. Aber die Festanstellung, die mir vom Chef immer wieder in Aussicht gestellt wurde, war sehr verlockend. Meine Aufgabe bei der Agentur war es, die Booking-Abteilung aufzubauen. Ich sollte Kontakte zu Veranstaltern und Medien pflegen, möglichst namhafte Künstler unter Vertrag nehmen und Tourneen organisieren. Es war ein ganz normaler Vollzeitjob - nur eben ohne Lohn.

Ich war froh, dass ich endlich einen festen Job hatte

Nach sechs Monaten bekam ich endlich einen Arbeitsvertrag. Das Gehalt: 1050 Euro brutto im Monat. Netto waren das nicht mal fünf Euro die Stunde, die vielen Überstunden nicht eingerechnet. An diesem Punkt hätte ich spätestens sagen müssen: Das war's. Habe ich aber nicht. Ich war so froh, dass ich endlich einen festen Job hatte. 40 Stunden Arbeitszeit pro Woche standen zwar in meinem Vertrag. Tatsächlich waren es aber 45 bis 50 - nicht eingerechnet der regelmäßige Pflichtbesuch von Veranstaltungen abends und am Wochenende. Zudem sollte ich rund um die Uhr telefonisch erreichbar sein. Nach einigen Monaten habe ich schließlich gekündigt. Ich hatte vom Chef immer wieder neue Aufgaben zugeteilt bekommen, der Druck war einfach unerträglich geworden.

In gewisser Weise hatte ich übrigens noch Glück: In der Medienbranche sind Jahrespraktika nicht unüblich ...

Günter Wallraff / Frank Bsirske / Franz-Josef Möllenberg (Hrsg.), Leben ohne Mindestlohn. Arm wegen Arbeit, Niedriglöhner, Leiharbeiter und "Aufstocker" erzählen, Hamburg: VSA 2011, 176 S., 12,80 €, ISBN 978-3-89965-447-9

Meinungsbild der Bevölkerung

Die Regierungsparteien müssen sofort einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland zustimmen, um Lohndumping zu verhindern.

Stimme sehr stark / stark zu – 76 Prozent

Stimme weniger stark / eher gar nicht zu – 23 Prozent

Fehlender Wert an 100 Prozent – Weiß nicht / Keine Angabe

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