Ein Senior/innen-Kollektiv rebelliert gegen den sozialen Kahlschlag in Spanien. Zu ihren überraschenden Aktionen zivilen Ungehorsams treibt sie die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder und Enkel

VON Lukas Grasberger

50 schwatzende Seniorinnen und Senioren strömen ins Foyer des katalanischen Innenministeriums im Zentrum von Barcelona. Auf den ersten Blick eine dieser Besuchergruppen, die sich die heiligen Hallen der Macht erklären lassen wollen. Doch plötzlich streifen sich graue Herren neongelbe Warnwesten über, elegante Señoras packen Plakate aus ihren Taschen. Ein Großvater mit weißem Vollbart holt neben drei überrascht blickenden Wach-Polizisten ein Megafon hervor.

"Wir besetzen hiermit das Innenministerium", schallt es bestimmt durch den Raum. "Wir werden nicht eher weichen, bis uns der Minister empfangen hat. Die Sparmaßnahmen der Regierung führen dazu, dass unsere Schulen und Unis zerstört werden. Die Zukunft unserer Kinder und Enkel ist in Gefahr."

Die Iaioflautas verschaffen sich wieder Gehör: Iaioflautas - das sind die "grauen Zellen" der Indignados, der spanischen Protestbewegung der "Empörten", die vor einem Jahr die spanischen Plätze und die Titelseiten der Zeitungen füllten. Etliche der Iaioflautas waren zu den Demos und Versammlungen der überwiegend jungen Empörten im Frühling 2011 gekommen, damals noch jeder für sich. "Wir sind Kinder der Indignado-Bewegung", sagt Celestino Sánchez, und lacht, auch ob des ungläubigen Blicks auf sein kahles Haupt und die grauen Resthaare. "Zum Herbstanfang drohte dieser Protest einzuschlafen", erinnert sich Sánchez, mit 62 einer der jüngeren der renitenten Rentner. Zu acht saßen sie in einem China-Restaurant zusammen und beschlossen: Es muss etwas passieren. "Wir müssen den Jungen ein wenig unter die Arme greifen."

Die renitenten Omas und Opas sind so entschlossen wie kreativ

Schon seinerzeit war rund die Hälfte der jungen Menschen unter 25 arbeitslos. Eine skandalöse Quote, die zwar Spaniens Omas und Opas bekümmerte, aber wenig persönlich betraf. Denn die Alten, sagt Sánchez mit verschmitztem Blick durch seine randlose Brille, hätten ihre Schäfchen doch längst im Trockenen: Die Hypotheken für Haus oder Wohnung abbezahlt, bei den Kürzungen in der Krise hat die Regierung sie bislang relativ glimpflich davonkommen lassen. "Die Politiker wollen, dass wir Alten Boule spielen, auf Bänken herumhocken und allerhöchstens auf unsere Kinder und Enkel aufpassen. Doch bei mir geht das schon nicht mehr: Meine Tochter ist nach Deutschland ausgewandert." Telekom-Ingenieurin sei sie, sehr gut qualifiziert, sagt Sánchez. "Alle Hebel hat sie in Bewegung gesetzt, um irgendeinen Job zu finden. Vergeblich!"

Erst kürzlich warnte die Internationale Arbeitsorganisation vor einer "verlorenen jungen Generation" in Spanien und Griechenland. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mahnte deutlich höhere Ausgaben für Schulen, Hochschulen und berufliche Förderung an: Zukunftsinvestitionen, die letztlich die Sozialhaushalte entlasteten. Doch die neue konservative spanische Regierung macht das Gegenteil: Im Frühjahr beschloss sie zusätzliche Einsparungen bei Bildung und Gesundheit in Höhe von zehn Milliarden Euro. Erstmals seit Ende der Franco-Diktatur streikten Ende Mai die Lehrenden von der Vorschule bis zur Uni. Die Folgen der jüngsten Kürzungen werden erst nach den Sommerferien schmerzlich zu spüren sein. Kinder, die wegen der letzten Sparmaßnahmen bereits mit Decken zum Unterricht kamen, weil ihre Schulen kein Geld mehr für die Heizung hatten, werden künftig enger zusammenrücken: Statt 30 dürften künftig über 42 Schüler/innen in Oberstufen-Klassen sitzen. Studiengebühren sollen sich auf mehrere Tausend Euro pro Jahr mehr als verdoppeln.

Die Polizisten ernten nur ein müdes Lächeln

Zahlen, die dem rundlich-gemütlichen Besetzer Sánchez im Innenministerium die Zornesröte auf die hohe Stirn treiben. "Tausende junger Menschen sind schon ausgewandert. Das kann doch nicht sein", empört sich der Iaioflauta, der früher auf dem Bau geschuftet hat, zuletzt als Ausbilder für den Nachwuchs. Nein, er, Celestino Sánchez, werde hierbleiben und für die Jugend kämpfen. Im Foyer des Ministeriums umringen indes mehr und mehr Wachpolizisten die Alten, reden energisch auf sie ein, das Gebäude zu verlassen. Sie ernten nur ein müdes Lächeln. "Vor denen", sagt eine schmale Frau mit grauer Fransen-Frisur, "habe ich keine Angst". Diese Jungs erinnerten sie an die Söhne einer Freundin, die zur Polizei gegangen sind, fügt Rosario Cunillera hinzu. Einschüchtern werde sie sich nicht lassen. Während der Diktatur habe sie schon ganz anderes erlebt. "Meinen Freund haben sie erschossen, während wir Flugblätter verteilt haben." Als Tochter von Franco-Gegnern im französischen Exil geboren, hatte sich Cunillera mit 18 dem Untergrund angeschlossen.

Celestino Sánchez macht sich keine Illusionen über die Zurückhaltung der Mossos, der katalanischen Sicherheitskräfte. "Die Politik kann keine Fernsehbilder von Polizisten gebrauchen, die Omas und Opas mit Schlagstöcken vertreiben." Auf junge Indignados, die sich friedlich auf dem zentralen Platz Plaça de Catalunya versammelten, hatten Polizisten dagegen wahllos eingeprügelt. Zwei Studentenführer kamen wochenlang in präventive Haft - unter fragwürdigen Vorwürfen. Einer der Inhaftierten ist der Enkel eines Iaioflauta. "Die ganze Familie ist fix und fertig", erzählt Nicasio Altamirano mit brüchiger Stimme. Er hält ein Plakat mit der Aufschrift "Sie fehlen uns!" in den Händen. "Sie behandeln ihn wie einen Terroristen", sagt Nicasio zur Lage seines Enkels.

Unter dem Druck der Finanzmärkte reagieren die konservativen Regierenden zunehmend nervös auf die Indignado-Proteste. Zum Treffen der Europäischen Zentralbank im Mai machten 8000 Polizisten Barcelona regelrecht zu einer Festung, sperrten U-Bahn-Stationen und erschwerten Studierenden massiv den Zugang zu einer genehmigten Demonstration gegen die Sparpolitik. "Wir dürfen nicht zulassen, dass durch einen Witz wie etwa einen Steinwurf die Risikoaufschläge von Staatsanleihen in die Höhe schnellen", sagte der spanische Innen-Staatssekretär Ignacio Ulloa. Um Gewalt am Rande von Demos zu verhindern, forderte der katalanische Ministerpräsident Felip Puig gar "ein System, das den Demonstranten Angst macht".

"Ist Protestieren jetzt etwa Terrorismus?"

Es sind besonders die Alten, die sensibel auf drohende Einschränkungen von Grundrechten reagieren. "Wir waren die, die erkämpft haben, dass man seine Meinung auf der Straße frei sagen kann. Aber jetzt droht alles den Bach herunterzugehen", sagt Feliu, der mit seinem Iaioflautas-T-Shirt über dem eleganten Hemd ein wenig verkleidet wirkt. "Ist Protestieren jetzt Terrorismus?" prangt auf dem Transparent, das er in die Höhe hält. Gezielt hätten die Polizei Köpfe des Jugendprotests herausgegriffen, glaubt Feliu. Unentschlosseneren solle signalisiert werden, dass es gefährlich sei zu demonstrieren. Die Entschlosseneren, sagt Feliu, "werden kriminalisiert und verächtlich gemacht".

Als Perroflautas, Taugenichtse mit Hund und Flöte, die auf den Plätzen herumlungerten, beschimpfte Esperanza Aguirre, die Präsidentin der Regionalregierung von Madrid, die Indignados. Die empörten Alten nahmen sich diesen Begriff - und wandelten ihn zu Iaioflautas, übersetzt in etwa: die Omas und Opas mit der Flöte. Allein die Präsenz der rebellischen Rentner/innen stört das Bild, das die Regierung von den Indignados verbreiten lässt. Statt angeblicher Nichtsnutze hat sie es plötzlich mit Uni-Professoren, Stahlarbeitern und Krankenschwestern zu tun, die ein Arbeitsleben hinter sich haben. Gegen ihre Akte zivilen Ungehorsams haben die Regierenden bislang kein Mittel gefunden: Die Iaioflautas lassen sich schlecht wie die Jugend nach hitzigen Protesten als Krawallmacher brandmarken. Zumal die Aktionen der Alten augenzwinkernd und wohlüberlegt sind. "Wir", erzählt Rosario Cunillera, "machen Streiche."

Überfallartig tauchen sie auf, wie an einem regnerischen Frühlingstag auf der zentralen Plaza Catalunya. Noch macht der Busfahrer nur ein erstauntes Gesicht, als Rosario, Celestino und weitere 70 Mitstreiter/innen den Bus der Linie 47 entern: Brav stempeln sie ihre Tickets. Auf dem Internet-Kurznachrichtendienst Twitter läuft parallel längst der Countdown: "Tick, tack", heißt es dort. "Lasst die Motoren warmlaufen. Sogleich folgt der nächste Streich..." Gefolgt von einem praktischen Tipp für die Alten: "Heute wird ein langer Tag. Vergesst belegte Brote und eure Medikamente nicht!"

Kaum hat sich der Bus in Bewegung gesetzt, verwandeln ihn die Iaioflautas zu einer fahrenden Litfaßsäule. Selbstgemalte Plakate in Neonfarben werden an die Scheiben geheftet, an jeder Haltestelle eilen ein paar Alte nach draußen, um Flugblätter zu verteilen. Der Busfahrer telefoniert mittlerweile hektisch. Verdutzt mischen sich neue Fahrgäste in die lebendige Menge. Doch mit ihren Gesängen gewinnen die Senior/innen im Handstreich die Sympathien der anderen Passagiere. Populär sind auch ihre Proteste gegen eine Fahrpreiserhöhung von bis zu einem Drittel. "Öffentliche Dienstleistungen, bezahlbar für alle, haben wir auf der Straße erkämpft. Jetzt ist die Zeit gekommen, sie auf der Straße zu verteidigen", wettert Adrián Risquez, der sich neben dem Chauffeur platziert hat. Jahrzehntelang saß der 77-Jährige selber auf dem Fahrersitz eines solchen Busses. Die "Entführung" war seine Idee - sie erinnert an eine Aktion vor 34 Jahren. Damals hatte der Gewerkschafter Manuel Vital den 47er schon einmal entführt. Er zwang den Chauffeur, die steile Straße in ein abgelegenes Arbeiterquartier hinaufzufahren. Die Verkehrsbetriebe hatten bis dahin immer behauptet, der Bus schaffe die Steigung nicht. Seit jenem Coup Vitals fährt der Bus auch in dieses Viertel.

Mit Aktionen wie der Bus-Besetzung geben die Iaioflautas der jungen Protestbewegung eine Geschichte - und knüpfen an soziale Errungenschaften der Gewerkschaften an: Der Iaioflauta Risquez hat die katalanische Transportgewerkschaft mitgegründet, Sánchez ist bis heute im Gewerkschaftsverband CCOO aktiv. Als altgediente Gewerkschafter bringen sie ihre Fähigkeiten zur Organisation und Mobilisierung in die Indignado-Bewegung ein. Und Durchhaltevermögen: "Wir sind viele, wir haben Zeit - und wir vergessen nicht", zitiert Sánchez ein Motto der Iaioflautas.

Ein Durchhaltevermögen, das auch das Personal des Innenministeriums mürbe macht: Celestino Sánchez bekommt nach einer Stunde Besetzung seine Audienz. Aufgeregt eilt er zum Aufzug. Alle anderen ziehen sich geordnet im Gänsemarsch nach draußen zurück. Sichtlich erschöpft sammeln sie sich im Schatten der Ministeriumsmauer - immer begleitet von Susana, die die Aktion der Alten mit einer Videokamera dokumentiert. "Die Begeisterung und der Lebensmut, mit dem sie dabei sind, rühren mich", sagt die 28-Jährige. Susana hat einen Master in "audiovisueller Kommunikation" in der Tasche, jobbt hin und wieder bei Fernsehsendern. Meist aber verdient sie ihr Geld mit Kellnern. Das Video über die Iaioflautas dreht sie, um in Übung zu bleiben. Aber auch, weil sie die Würde fasziniere, die die aktiven Alten ausstrahlten. "Sie haben erlebt, dass Solidarität sich auszahlt. Nun möchte auch ich ihnen etwas zurückgeben."

Eine Stunde später ist der informelle Iaio-Anführer Sánchez zurück. Politisch war die Unterredung im Ministerium kaum ein Erfolg: Für das einstündige Gespräch hatte letztlich doch nur ein Staatssekretär Zeit, der zudem keine der Forderungen zusagen wollte. Medial ist sie erfolgreicher: Die Iaioflautas schaffen es in fast alle Abend-Nachrichten und Zeitungen - auch dank der jungen Aktiven wie Susana, die die Nachrichten von der Besetzung auf Facebook und Twitter verbreitet haben. "Wir sind weltweit die Nummer 1 Trending Topic bei Twitter", ruft Sánchez seinen Iaioflautas zu. "Ich habe keine Ahnung, was das heißt. Aber es muss eine echt tolle Sache sein." Die Lacher und den Beifall hat er damit auf seiner Seite.

Ein Katz- und Mausspiel, das alle Lebensgeister weckt

Bei der anschließenden Manöverbesprechung spielt Sánchez noch immer fasziniert mit seinem neuen iPad. "Wir lernen von den Jungen, und die Jungen von uns", sagt er. Kurse in "digitaler Alphabetisierung" wird es demnächst geben, damit auch andere iPad und Twitter beherrschen. Ihre Asamblea, die typische Indignado-Versammlung, halten die Iaiofautas nicht auf dem harten Boden der Plätze ab, sondern auf gepolsterten Café-Stühlen. "Die Protestbewegung", sagt Sánchez, "war für viele von uns wie eine frische Brise." Statt in den eigenen vier Wänden zu versauern, treffen sich die Iaioflautas nun regelmäßig, können sie noch einmal zeigen, dass sie Internet vielleicht nicht so gut, die altbewährten konspirativen Techniken dafür umso besser beherrschen. Der Ort einer Aktion bleibt bis zuletzt geheim, Mitstreiter/innen und Medien werden erst kurz vorher zusammengetrommelt. Ein Katz-und-Maus-Spiel, das bei einigen Iaiflautas sichtlich die Lebensgeister vergangener Zeiten wieder erweckt. "Wir können dichthalten. Die Jungen müssen lernen, nicht alles auszuplappern", sagt ein Senior, der seinen Namen nicht nennen will. "Sie hören unsere Telefone ab", ergänzt Adrián mit verschwörerischem Unterton. Ins Detail gehen wollen sie auch nicht über die neueste Aktion. Einig sind sie sich nur, dass es wieder gegen Banken gehen soll, die sich bei Immobilienspekulationen verzockt haben und nun Milliarden an öffentlichen Geldern fordern.

Ein paar Wochen später werden die rebellischen Omas und Opas Filialen des Krisen-Instituts Bankia stürmen, bewaffnet mit Chorizo-Würsten - "Chorizo" bedeutet im Spanischen auch Gauner. Erstmals beteiligen sich nicht nur Iaioflautas in Barcelona, sondern auch in vier weiteren spanischen Städten. Es scheint, die ergrauten Kinder der Indignados haben Nachwuchs bekommen.


Mit diesem QR-Code kommst Du direkt zu einer Dokumentation, die die spanischen Seniorinnen und Senioren bei der Belagerung des 47er Busses zeigt. Dafür den QR-Code mit einem Smartphone scannen.

"Die Politiker wollen, dass wir Alten Boule spielen, auf Bänken herumhocken und allerhöchstens auf unsere Kinder und Enkel aufpassen. Doch bei mir geht das schon nicht mehr: Meine Tochter ist nach Deutschland ausgewandert."

Celestino Sanchez, 62 Jahre