Sozialarbeiterin Hackley

"Ich kann ohne das Anne nicht mehr leben" - schreibt eine Zwölfjährige aus dem Kasseler Norden und bittet den Oberbürgermeister um Unterstützung für die Sozialarbeiter/innen. "Das Anne", so nennen die Kids ihr Anne-Frank-Haus, eine von rund 50 sozialen Einrichtungen der Stadt Kassel, die im Mai 2015 bestreikt werden. Und das Stadtoberhaupt soll helfen, weil die Kinder und Jugendlichen immer mal wieder vor verschlossenen Türen stehen.

Der Schritt, die Arbeit zeitweise niederzulegen, ist Sozialarbeiterin Charlene Hackley nicht leicht gefallen. Seit rund fünf Jahren bietet sie Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen Raum für außerschulische Bildung im Anne-Frank-Haus. Den Begriff "sozialer Brennpunkt" benutzt die ver.di-Vertrauensfrau nicht gerne. Nach ihrer Auffassung stigmatisiert er zu sehr; dahinter verschwinde, was an Fähigkeiten und Kreativität in den jungen Menschen steckt.

Jugendliche auf dem Abstellgleis

Die Jugendlichen spüren ganz genau, dass sie auf einem Abstellgleis stehen. Sich etwas zuzutrauen, fällt ihnen schwer. Zumal in den meisten Fällen das familiäre Rückgrat fehlt. Oft brauchen ihre Eltern selbst Unterstützung. Da steht "das Anne" zur Verfügung: von 15 bis 21 Uhr. Es ist ein offenes Haus, wer kommt, tut das freiwillig. Und findet ein reichhaltiges Angebot: von Hausaufgabenbetreuung, Antigewalttraining, über Tanz, Fußball und Kochen, von Sprachförderung bis zu Ferienprogrammen.

Davon machen an ruhigen Tagen 40, meistens aber bis zu 80 Jugendliche Gebrauch. "Für manche Besucher sind wir ein zweites Zuhause, wir sind ein täglicher Anlaufpunkt für sie, und in unserer Beziehungsarbeit schaffen wir es, neue Perspektiven und Wege aufzuzeigen, die einen Wendepunkt in ihrem Leben darstellen können", sagt Charlene. Und "das Anne" stehe auch denen weiter zur Verfügung, die den Sprung geschafft haben. Der Studienanfänger komme immer mal wieder im Haus vorbei, um sich selbst zu vergewissern.

Brief einer Zwölfjährigen

Das Zentrum arbeitet eng mit anderen Einrichtungen im Stadtteil zusammen, wie mit dem Jugendamt oder auch der Jugendgerichtshilfe. Es geht darum, so Charlene, ein sicheres Netz zu spannen. Zweimal in der Woche geht sie zur "aufsuchenden Arbeit" in den Stadtteil. Wer bislang den Weg noch nicht ins Jugendzentrum gefunden hat, wird auf diese Weise eingeladen.

Aber manchmal scheint die Zeit wegzulaufen. Dann kommt sich die 32-Jährige vor wie bei der Feuerwehr. Sie begegnet Schicksalen, die sie auch persönlich belasten. Multiproblematiken nennt sie das. Verlorene junge Männer zum Beispiel. Dann muss sie aushalten, dass die Resultate der Anstrengungen nicht ihren Wünschen entsprechen.

Soziale Arbeit darf nicht geringer entlohnt werden

Was kennzeichnet die Arbeit in Kitas und im Sozialzentrum? Beide Bereiche eint der Auftrag zur außerschulischen Bildung, zur Hilfestellung bei der Entwicklung von jungen Persönlichkeiten. Soziale Zentren stehen jedoch häufig im Schatten, werden öffentlich meist kaum wahrgenommen. In einer gemeinsamen Resolution von einem Streiktag in Offenbach am 21. Mai heißt es: "Soziale Arbeit als eine zentrale gesellschaftliche Daseinsvorsorge darf nicht geringer geachtet, ausgestattet und entlohnt werden als die Arbeit in den Bereichen Technik und Finanzen. Wir verlangen die unseren beruflichen Herausforderungen, unserer gesellschaftlichen Bedeutung, unserem Ausbildungsniveau und unserem persönlichen Engagement angemessene Wertschätzung, Bezahlung und Ausstattung."


"Wir können noch mehr"

Sozial- und Erziehungsarbeit - Bundesweit einheitliche Mindeststandards gefordert

Mehr als 8500 streikende Erzieher/innen und Sozialarbeiter/innen kamen Mitte Mai mit 150 Bussen nach Gießen zur zentralen Kundgebung des ver.di-Landesbezirks Hessen mit dem ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske und Landesleiter Jürgen Bothner. Aber diese Zahl wurde später noch getoppt: Am 27. Mai waren es in Frankfurt mehr als 16.000, die den Druck auf die kommunalen Arbeitgeber verstärkten, endlich ein Angebot vorzulegen, das auf die Forderungen der Streikenden eingeht und verhandlungsfähig ist. Die Großkundgebungen wurden begleitet von einer Vielzahl örtlicher Aktionen - nochmals rund 5000 an jedem Tag in der Woche vor Pfingsten: Das soziale und bildungspolitische Hessen ist auf den Beinen.

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt: Paddeln auf der Lahn, Fahrradkorso durch die Stadt, Menschenkette ums Rathaus, Resolutionen an die kommunalen Oberhäupter und natürlich die klassischen Demonstrationen und Kundgebungen. Jetzt weiß man wieder zu schätzen, was man die ganze Zeit so selbstverständlich fand, sagen sich viele Elternorganisationen und solidarisieren sich mit den Streikenden.

Denn die Forderungen, um die es geht, sind vielschichtig. Die Beschäftigten verlangen, für ihre komplizierter werdende Arbeit als pädagogische Kräfte angemessen bezahlt zu werden. Darüber hinaus haben sie aber auch eine Neuordnung der Erziehungsarbeit im Blick: "Kindertageseinrichtungen sind die erste Stufe des institutionalisierten Bildungssystems. Sie zu besuchen, ist für den weiteren Lebenslauf von Kindern von hoher Bedeutung. Bei ihrer sozialen, kognitiven, sprachlichen, musischen und kreativen Entwicklung werden Kinder hier begleitet. Das ermöglicht einen guten Bildungsstart", heißt es in einem Regelungsentwurf von ver.di, der für die unterschiedlichen Träger gelten soll.

Gerade in einem Land, in dem Bildungserfolg und damit auch der erfolgreiche Einstieg ins Berufsleben immer noch maßgeblich von der sozialen Herkunft abhänge, seien frühe Bildungsangebote notwendig. Und weiter: "Um allen Kindern und Eltern gleiche Lebensbedingungen zu garantieren, ist es notwendig, dass bundesweit geeignete und einheitliche Mindeststandards für Kindertageseinrichtungen gelten."

Über Finanzierung und Ausbildung muss natürlich ebenfalls noch geredet werden. Dass sie noch vieles mehr können, wollten die Streikenden in den kommenden Wochen zeigen.

reb