Die Politik hat die gesetzliche Rente am Ziel der Beitragsstabilität ausgerichtet, nicht an Leistungen, die ein Leben in Würde ermöglichen. Ändert sie das nicht, leidet dieses System mehr und mehr. Ein Gespräch mit Jutta Schmitz vom Institut Arbeit und Qualifikation

ver.di publik - Wie viele der älteren Menschen gelten heute als arm?

Jutta Schmitz - Das kommt auf die Definition an, deswegen existieren in der Debatte auch unterschiedliche Zahlen. Wenn Sie diejenigen Personen als arm erfassen, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben, waren das in etwa 14,5 Prozent der Personen über 65 Jahren im Jahr 2013.

ver.di publik - Bei wieviel Euro lag die Armutsschwelle?

Schmitz - Das waren 2013 etwa 890 Euro für eine alleinstehende Person.

ver.di publik - Der Trend zeigt, dass Altersarmut weiter steigen wird. Wie kommt es zu dieser Entwicklung?

Schmitz - Das ist die Folge der veränderten Rentenberechnung. Sie führt zwangsweise dazu, dass das Rentenniveau, also die Ersatzrate, die die Rente im Vergleich zum vorherigen Einkommen einnimmt, sinkt. Das hat zur Folge, dass die Einkünfte aus der gesetzlichen Rente allein nicht mehr lebensstandardsichernd sind, teilweise sind sie nicht einmal mehr armutsvermeidend. Dann braucht man zwingend Einkünfte aus der zweiten und dritten Säule der Alterssicherung, der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge.

ver.di publik - Kann die betriebliche Altersvorsorge das leisten?

Schmitz - Die betriebliche Vorsorge erfasst in Deutschland etwa 40 Prozent der Beschäftigten. Ob die Unternehmen überhaupt betriebliche Vorsorgemöglichkeiten anbieten, unterscheidet sich aber stark nach Branchen und Betriebsgröße. Außerdem sind die verschiedenen Vorsorgewege unterschiedlich attraktiv für die Arbeitnehmenden. Dort, wo sie vernünftig vorhanden ist, ist die betriebliche Altersvorsorge sicherlich eine wichtige und gute Ergänzung für die Beschäftigten, aber sie ist keine verlässliche Ergänzung, weil sie ein freiwilliges Angebot ist. Und ein großer Teil der Beschäftigten wird systematisch davon nicht erfasst.

ver.di publik - Und die private Vorsorge?

Schmitz - Die private Vorsorge ist sozial sehr selektiv. Gerade die schwächsten und gering qualifizierten Einkommensgruppen sind nicht in der Lage, auf den teuren Versicherungsmärkten alleine, ohne Unterstützung durch die Arbeitgebenden, Geld für die Altersvorsorge anzulegen. Die Bundesregierung geht von einer Beteiligungsquote von etwa 40 Prozent aus. Das ist vermutlich noch überzeichnet. Außerdem sagt die Quote nichts darüber aus, in welcher Höhe vorgesorgt wird und ob die Verträge nicht gerade ruhen.

ver.di publik - Dennoch hat die damalige rot-grüne Bundesregierung Anfang dieses Jahrtausends die Beitragszahlenden stärker in die Pflicht genommen, privat besser vorzusorgen ...

Schmitz - Die damalige Bundesregierung hat die Funktionsweise der Rentenversicherung an dem Ziel der Beitragssatzstabilität ausgerichtet. Arbeitgebende sollten nicht zu stark belastet werden durch Lohnnebenkosten. Bei den Arbeitnehmenden hat sie hingegen vorausgesetzt, dass sie jetzt vier Prozent ihres Einkommens privat auf Versicherungsmärkten anlegen, ohne Beteiligung der Arbeitgebenden. Ziel der Reform war auch, einen privaten Altersvorsorgemarkt zu schaffen und die Versicherungen bewusst zu stärken.

ver.di publik - Hätte es Alternativen gegeben?

Schmitz - Man hätte auch an dem Ziel der Leistungssicherung festhalten können, die Lebensstandardsicherung mehr in den Mittelpunkt rücken können, dann hätte man an anderen Stellschrauben drehen müssen. Davon gibt es verschiedene, zum einen wäre der Beitragssatz auf absehbare Zeit sicherlich gestiegen, zum anderen hätte man aber auch den Bundeszuschuss erhöhen können.

ver.di publik - Kann man die Politik dazu bringen, wieder davon abzurücken?

Schmitz - Für mich ist es schwierig, den politischen Diskurs zu beurteilen, gerade weil sich an dieser Reform gezeigt hat, dass Lobbyismus in Deutschland eine sehr große Rolle spielt. Zumindest müsste ein Diskurs darüber in Gang kommen, dass es eine Notwendigkeit gibt, eine Rentenlücke zu schließen. Hier sehe ich derzeit viele offene Fragen, die immer schneller auf uns zu rollen, weil die nachrückenden Kohorten immer deutlicher von den Rentenlücken betroffen sein werden. Bislang sind die politischen Antworten darauf unzureichend.

ver.di publik - Die Politik rechtfertigt die Rentenreformen mit dem demografischen Wandel, also mit den nachrückenden Kohorten, in denen immer weniger junge Menschen nicht für die Rente von immer mehr Älteren aufkommen sollten. Ist das eine treffende Argumentation?

Schmitz - Es ist im politischen Diskurs geglückt, diesen Generationenbegriff ganz falsch zu besetzen. Die Frage muss sein, ob die ins Rentenalter nachrückenden Kohorten unter den gleichen Bedingungen ihre Rente beziehen werden wie die aktuelle. Dieses Prinzip ist durch die Rentenreform verletzt worden, sie benachteiligt sehr stark die Jüngeren. Es ist auch gelungen, den Begriff der Beitragszahlenden so zu besetzen, dass der Eindruck entstanden ist, die Jüngeren würden die Renten der Alten bezahlen. Das ist aber falsch. Das Finanzierungsverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung ist zwar das Umlageverfahren. Das bedeutet, dass die Einnahme einer Periode die Ausgaben der gleichen Periode decken. Das bedeutet aber nicht, dass die Jungen die Renten der Alten zahlen müssen. Das ist nur der Finanzfluss, der hinter der Rentenversicherung steht. Die Jüngeren erwerben mit ihren Beiträgen einen eigenen Rentenanspruch.

ver.di publik - Die Rente ist sicher, hat der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm, CDU, in den 1980er Jahren gesagt, und meinte damit die gesetzliche Rente. Gilt das noch?

Schmitz - Das System der Rentenversicherung ist, wie das aller Sozialversicherungssysteme in Deutschland, geprägt von politischen Entscheidungen. Ich glaube, da hat Norbert Blüm sich vielleicht auch ein bisschen verschätzt, weil er so von dem Prinzip der gesetzlichen Rentenversicherung überzeugt war - und das auch zurecht -, dass er sich nicht hat vorstellen können, dass sich mal ein politischer Prozess in Gang setzt, der die Rentenversicherung so kaputt macht. Tatsächlich ist das aber so passiert. Wäre das nicht passiert, bin ich mir sicher, dass der Spruch auch heute noch gelten würde, weil ich wirklich fest glaube, dass die gesetzliche Rentenversicherung mit ihren lohn- und beitragsbezogenen Leistungsprinzipien und der Umlage als Finanzierungsverfahren die beste Möglichkeit ist, um das Risiko Alter abzusichern.

ver.di publik - Können wir noch auf die gesetzliche Rente vertrauen?

Schmitz - Das Vertrauen wird ganz automatisch immer weiter nachlassen, wenn immer mehr Menschen auch nach langjähriger Versicherungszeit eine Rente beziehen werden, die nahezu auf dem Grundsicherungsniveau liegt. Es muss wieder sehr viel stärker darum gehen, über die Leistung zu diskutieren und gute Antworten auf die Frage bereit zu halten, wie man den Lebensstandard absichern kann über das System der Rentenversicherung und auch über eine Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung. In der jetzigen Verfassung ist es durchaus berechtigt, da skeptisch ranzugehen.

Interview: Heike Langenberg


Jutta Schmitz ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen. Es wurde 2007 als Forschungsinstitut in der geisteswissenschaftlichen Fakultät gegründet. Geforscht wird interdisziplinär und international vergleichend. Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen Forschung sind die Gebiete Arbeit und Beschäftigung, Soziale Sicherung sowie Bildung. Leitgedanke ist dabei - so steht es auf der Internetseite des IAQ - die Suche "nach einer Verknüpfung von wirtschaftlicher Effizienz und sozialem Ausgleich durch die nachhaltige Gestaltung von Arbeits-, Lohn- und Sozialsystemen". www.iaq.uni-due.de