Das Territorium Yukon im Nordwesten Kanadas zieht Abenteurer, Sportler und Glückssucher an. Der Ivvavik Nationalpark an der Küste der Beaufortsee ist noch so gut wie unberührt - jetzt gibt es erste Touren in das Gebiet der Inuvialuit, der Ureinwohner der westlichen kanadischen Arktis. Für sie ist es der "Ort, an dem geboren wird"

In einem Tagesmarsch geht es im Nationalpark gen Himmel. Die Aussichten sind grandios

Immerhin – kaum als Flughafen zu erkennen, aber eine Windhose fehlt für die Piloten im Landeanflug nicht

Da reist man um die halbe Welt und steht – vor dem örtlichen Gewerkschaftshaus. Wir sind in Whitehorse gelandet, von hier aus wird es weitergehen in den äußersten Norden Kanadas. Die Hauptstadt des Yukon-Territoriums liegt am Ufer des breiten Yukon Rivers. Der große Teil der rund 26.000 Einwohner der Stadt arbeitet im öffentlichen Dienst. Anders als im Osten des Landes genießt die Gewerkschaft hier den Ruf als unverzichtbarer Partner des Staates, dem viel daran liegt, die Leute in der dünn besiedelten Gegend zu halten. Trotz der eiskalten, dunklen Winter und harten Lebensbedingungen. Denn weit ist es nicht bis zum Polarkreis.

Im Juni ist die Luft allerdings überraschend warm. Der Yukon River wälzt sich flussabwärts nach Alaska, wo er in die Beringsee mündet. Auf den Straßen ist kaum Verkehr, und doch schmückt sich Whitehorse mit allen 18 Ampeln, die es im gesamten Territorium gibt. Verlässt man das Stadtgebiet, wird man in seinem Lauf vielleicht von Bären oder Karibus aufgehalten. Nicht aber von Rot, Gelb oder Grün, was die durchregulierten europäischen Gäste gern erwähnen, wenn sie von ihren Touren mit dem Camper, Auto oder dem Motorrad erzählen.

Auf dem kurzen Weg vom Flughafen Whitehorse in die Innenstadt fällt die restaurierte Pracht der SS Klondike ins Auge. Es ist das letzte der Dampfschiffe, mit denen die Goldsucher ihre Versorgungsgüter nach Dawson zum Klondike River brachten. Der Anblick gibt einen Eindruck vom turbulenten Leben, das zu Zeiten des Goldrauschs hier geherrscht hat. Von Whitehorse aus mussten die Gebiete des gesamten Nordens versorgt werden. Den nächsten Boom brachte 1942 der Bau des Alaska-Highways, der den Güterverkehr endgültig vom Wasser auf die Straße verlagerte, die Dampfschiffe hatten ausgedient.

Stattdessen startet heute in jedem Sommer der Yukon River Quest, das härteste und längste Ultra-Kanu/Kayak-Rennen der Welt von Whitehorse nach Dawson. 715 Kilometer flussabwärts paddeln die Teilnehmer durch ein zwar optisch beruhigtes Gewässer, doch der Fluss hat seine Tücken. Es ist ein immenser Kraftakt, sich von den Strömungen nicht mitreißen zu lassen und zu kentern. Diesmal geht Birgit Fischer mit an den Start. Die Kanutin ist die erfolgreichste deutsche Olympionikin der Sportgeschichte und hat acht Gold- und vier Silbermedaillen gewonnen. Da muss sich die Konkurrenz ins Zeug legen.

Busfahrt am Himmel

Am nächsten Morgen geht die Reise in den Norden nach Inuvik, der kleinen Inuvialuit-Stadt auf dem Permafrostboden des Nachbarbundeslands Northwest Territories. Der kleine Abstecher ist nötig, von hier aus gelangt man mit dem Buschflugzeug in den Ivvavik Nationalpark, der wiederum zum Yukon-Gebiet gehört.

Um die Ecke des Gewerkschaftshauses von Whitehorse liegt der kleine Flughafen, die Propellermaschine brummt zuerst nach Dawson, landet dann nochmal in Old Crow, bevor sie Inuvik ansteuert. Es ist wie eine Busfahrt am Himmel, und die Flughäfen sind nicht viel größer als eine Haltestelle mit Häuschen. Überraschung über den Wolken: Unsere Flugbegleiterin heißt Nadin Dörksen und kommt aus Flensburg.

Kaum sind wir in der Luft, nimmt die 36-jährige blonde Frau mit Block und Stift die Getränke und Snack-Bestellungen der rund 25 Fluggäste entgegen, sie eilt gut gelaunt in dem schmalen Gang hin und her. Unter uns passieren wir die Baumgrenze, an der die letzten Nadelwälder verschwinden und die Tundra beginnt, die Erde ocker zu färben. Zahllose Flussläufe kringeln sich durch flache blassgrüne Hügelketten, als schrieben sie eine kryptische Geheimschrift in die von mächtigen Permafrost-Prozessen geformte Landschaft. Nicht von ungefähr kamen mit den Goldsuchern des 19. Jahrhunderts auch die Paläontologen hierher und freuten sich über Funde gigantischer Mammutskelette, die der Boden an die Luft gesetzt hatte.

Kultur des Überlebens

Durch die Sprechanlage ertönt Nadin Dörksens Stimme. „Willkommen im Yukon!” Der ist vor allem bei deutschen Urlauber/innen beliebt. Und doch ist die Chance, sich in der Tundra zu treffen, äußerst gering. Nadin ist eine von vielen Deutschen, die es für immer in die Tundra verschlagen hat. Und natürlich kennt sie das Gebäude der Gewerkschaft in Whitehorse. Für sie ist es selbstverständlich, dort organisiert zu sein. Munter erzählt sie von ihrem Arbeitskampf in der letzten Saison.

Flugbegleiterin und Gewerkschaftsmitglied Nadin Dörkens ist gekommen, um zu bleiben

Der Dienstplan der Flugbegleiterinnen war so spontan gestaltet, dass ein Familienleben nicht mehr planbar war. „Und wir mussten Urlaub nehmen, um unsere Stunden aufzustocken, sonst wären wir noch nicht mal auf den Mindestlohn gekommen.” Sie und ihre Kolleginnen wandten sich an die Yukon Employees Union, erhielten Unterstützung und praktische Tipps, mit dem Ergebnis: Streik! „Wir sind geflogen, haben aber den Service eingestellt”, sagt Nadin. „Um den Fluggästen zu vermitteln, warum, hat man uns mit Flyern für die Fluggäste geholfen. Das kam bei den Leuten super an, sie wünschten uns Glück. Unser Arbeitgeber hat sich dann schnell mit uns geeinigt.” Die frühere Event-Managerin liebt ihren neuen Beruf und das Leben, das sie hier im Yukon gefunden hat. Sie ist ein Outdoor-Mensch geworden; das Leben in der Natur, im Schnee, das möchte sie nicht mehr missen.

Zwischenstation Old Crow: Neben dem winzigen Flughafengebäude aus Holz sitzen Freddy Frost und sein Kumpel auf ihren Quads. Freddys Gesicht ist wettergegerbt unter seiner Baseballkappe, er hat eine Hilti-Box auf dem Lenker montiert und bunkert dort ein Bier und Zigaretten. Auf die muss er aufpassen, er zahlt 25 Dollar für die Schachtel. Ich rolle ihm eine Selbstgedrehte, was ihn sichtlich fasziniert.Freddy ist Indianer, er gehört den Vuntut Gwitchin an, dem „Volk der Seen“, das hier lebt. „Wir kommen hier oft vorbei und gucken, wer so alles aus der Maschine steigt und was so angeliefert wird”, sagt er. Viel gibt’s hier nicht zu tun, die beiden freuen sich schon auf die Kanuten, die bald vorbeikommen werden. Ohne staatliche Unterstützung könnten sie hier nicht leben, auch zahlen sie niedrigere Mieten als die Weißen.

Dies sind Teil-Erfolge jahrelanger Verhandlungen der First Nations und der Inuit mit der kanadischen Regierung. Die hat erst spät verstanden, dass das Wissen der Ureinwohner eine unbezahlbare, aber brach liegende Ressource für das Land und seine Entwicklung darstellt und ihre Jahrhunderte alte Kultur des Überlebens unverzichtbar für alle ist. Bis die frühere Politik der Angleichung einer zukunftsorientierten Integration weicht, ist noch einiges zu tun. Erst allmählich verstehen die Großunternehmen, die hier Öl und Gas fördern, dass die wahren Fachkräfte die Inuit sind. Niemand sonst kennt die Beschaffenheit und Dynamik des Erd- und Eisreichs, die Tier- und Pflanzenwelt besser als sie. Doch noch ist die Arbeitslosigkeit unter ihnen hoch.

In Inuvik gelandet, winkt uns Flugbegleiterin Nadin hinterher, sie fliegt gleich zurück und ist am Abend wieder zu Hause bei ihrem Freund. Inuvik liegt nur 100 Kilometer vor der Küste des Eismeeres und ist die größte Stadt Kanadas nördlich des Polarkreises. 3.500 Menschen leben hier. Die Inuit – das sind all die indigenen Volksgruppen, die im arktischen Zentral- und Nordostkanada und auf Grönland leben – sind neben den Europäern mit 25 Prozent in der Minderheit. Es gibt eine Buchhandlung, die „Boreal Books”, eine Hauptstraße mit einem alternativen Café und eine Kirche in Iglu-Form. „Hier hat sich Detlef D. Soost verlobt!”, erzählt uns stolz ein Gemeinde-Mitarbeiter. Der deutsche Tänzer, Choreograf und Jurymitglied der Castingshow Popstars ist auch hier im Eis bekannt.

70 Jahre, ein iPad und 900 Facebook-Freunde

In der Sommerzeit wird überall gehämmert und gesägt. Inuvik ist eine Freude für Geologen und Bauingenieure. Wegen des Permafrostbodens stehen alle Gebäude auf Stelen, die tief ins gefrorene Erdreich eingelassen sind. Doch der Permafrost drückt sie in jeder Saison wieder nach oben, das macht jeden Hausbesitzer zum Bodenexperten.

Am nächsten Morgen dann der letzte Flug, es geht mit dem Buschflugzeug über das Mackenzie-Delta direkt nach Sheep Creek, einem Camp im Ivvavik Nationalpark. Hier werden wir vier Tage lang Ruhe tanken und eine menschenleere Landschaft erleben, so weit das Auge reicht und die Füße tragen. Die kleine Maschine landet auf einer kurzen Schotterpiste, und nach der freudigen Begrüßung durch die Mitarbeiter von Parks Canada, die sich um diesen Teil des Gebietes kümmern, ist es – still. Einsamer geht’s nicht. Und wärmer auch nicht. Wir schwitzen nördlich des Polarkreises bei 30 Grad im Schatten, und die Sonne brennt 24 Stunden am Tag auf den Kopf. Das zerstreut die Bedenken, vier Nächte im Zelt auf Frostboden zu schlafen.

Renie ist eine der Ältesten aus ihrer Gemeinde in den Northwest-Territories und hat die Regierungen über ihr Wissen und ihre Naturschätze unterrichtet

Außerdem sind da Renie und Louisa. Die beiden sind Inuvialuit-Elders, Älteste aus der Gemeinde Aklavik. Lousia wird uns die nächsten Tage mit ihren Speisen versorgen und Renie erzählt aus dem prall gefüllten Nähkästchen der Inuvialuit, während sie kleine selbstgemachte Püppchen bestickt. Sie ist fast 70 Jahre alt, hat ein iPad und 900 Facebook-Freunde. Mitte der 90er Jahre war sie als Aktivistin jahrelang an den Verhandlungen mit der kanadischen Regierung beteiligt, sie rangen um Land und Jagdlizenzen: „Ich habe mit einem Recorder Feldstudien gemacht, die Leute interviewt, um das Wissen und die Traditionen unserer Leute zu dokumentieren. Als ich zum ersten Mal vor der kanadischen Kommission gesprochen habe, konnte ich alles darüber erzählen und erklären, warum die Ölfirmen nicht einfach bohren können, wo es ihnen gefällt, weil sie sich nicht auskennen und uns unsere Lebensgrundlage rauben.“ Heute ist Renie Arey Mitglied des Jäger- und Trapper-Komitees, dem wichtigsten Entscheidungsträger für die Inuit-Community. Hier werden die Bohrvorhaben von der Inuit-Gemeinde genehmigt oder auch nicht. Oft genug setzen sich die Firmen darüber hinweg.

Täglich chattet Renie mit ihrer weit verzweigten Familie. Sie kocht Medizin aus getrocknetem Kiefernharz, ein uraltes Allheilmittel der Inuit. Auch wir sammeln im Wald „Diamanten”, die getrockneten Harztropfen, die der Baum im Frühjahr durch die Rinde drückt. Zwei Stunden wird der Sud gekocht und gesiebt. Als in der Gruppe der Sonnenstich umgeht, hilft der bittere Trunk innerhalb kurzer Zeit wieder auf die Beine.

Dawson City – die Goldgräberstadt ist noch heute so pittoresk wie zur Zeit des Goldrauschs

Vier Tage wandern, schauen, chillen und den Geschichten der Inuvialuit lauschen. Kein Handy, Computer, Telefon. Dafür leuchtet die Sonne das prachtvolle Bergpanorama stets aufs Neue in warmen Gelbtönen aus, es ist spektakulär und unmöglich, sich daran satt zu sehen. Ungläubig schöpfen wir Trinkwasser direkt aus dem Bach, es schmeckt einfach köstlich. Eine Einweisung klärt uns über den Umgang mit Bären auf, wir nehmen Bären- und Mückenspray, Bärenböller und Trillerpfeife entgegen. Rachel Hansen ist Anfang 30 und als Inuvialuit hier aufgewachsen. Von klein auf hat sie gelernt, sich in der winterlichen Eiswüste zu orientieren und bringt dies auch ihren Kindern bei. Im Sommer begleitet sie die Besucher bei den Wanderungen über die Flüsse und Berge und am liebsten zum Halfway To Heaven, auf einem nicht einfachen Tagesmarsch zu einem besonders schönen Aussichtspunkt. Die Gruppe ist von der Grandezza der Aussicht überwältigt. Wir juchzen regelmäßig, auch, um den Bären unsere Gegenwart anzuzeigen.

Vier Tage digitale Entgiftung – die Zeit vergeht zu schnell. Braungebrannt von der Polarsonne und tief entspannt treten wir den Rückweg an. Leicht fällt der Abschied nicht. Doch die Männer in der Gruppe sind ungeduldig. Sie wollen endlich den Dempster Highway runterbrettern. Über die 736 Kilometer lange, unbefestigte Schotterpiste kommt man von Inuvik zurück ins südlich gelegene Dawson City, überquert den Polarkreis und kann sich noch einmal im Anblick der unendlichen Weiten verlieren. Es ist eine Frage der Ehre, den Highway mindestens einmal gefahren zu sein. In Eagle Plains, der einzigen Tankstelle mit Hotel auf dem Weg, machen wir Rast. Aufgeregt zeigt man uns Fotos eines Bären, der kurz zuvor ins Hotel marschiert war und sich kurioserweise nur über eine bestimmte Sorte Schokoriegel hergemacht hatte.

Die unerwähnte Indianerin

Nur kurze Zeit bleibt noch, um die Goldgräberstadt Dawson City zu bewundern, dabei ist es hier am Fluss so pittoresk, nicht wenige Besucher/innen bleiben für immer. Alle Gebäude des Aussteiger-Städtchens stehen unter Denkmalschutz. Farbenfroh restaurierte Hotels, windschiefe alte Häuschen, die Amüsiermeile und natürlich die Hütte von Jack London, der hier zwar kein Gold, aber Stoff für seine Bücher fand. Kaum bekannt ist: Auch Dagobert Duck hat seine erste Milliarde in Dawson gescheffelt.

Es bleibt der unsterbliche Traum von sagenhaftem Reichtum. In der Nähe des Urclaims am Bonanza Creek, dem Bachlauf, in dem einst drei Indianer beziehungsweise eine ihrer nie erwähnten Ehefrauen einen Nugget im Kaffeewasser fand und so den Goldrausch in der Gegend auslöste, sieht man noch heute die Bagger das Erdreich durchwühlen.


Anreise

Flug von Frankfurt/M. nach Whitehorse mit Air Canada über Vancouver oder mit Condor direkt ab Frankfurt/M.

Von dort aus mit dem Mietwagen über den Dempster Highway nach Inuvik oder mit Air North über Old Crow, Dawson City: www.flyairnorth.com

Kanada: www.keepexploring.de

Yukon: www.travelyukon.de www.travelyukon.com

NWT: www.spectacularnwt.de

Nationalpark Ivvavik, Parcs Canada: www.pc.gc.ca/eng/pn-np/yt/ivvavik/index.aspx

Literatur:

Jack London: Lockruf des Goldes; Ruf der Wildnis (dtv Taschenbücher)

Don Rosa: Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden, Egmont Verlag, 29.90 €

Lael Morgan: Good Time Girls of the Alaska-Yukon Gold Rush

Pierre Berton: The Klondike Quest, Bildband