Henrik Müller war von 2001 bis 2015 Redakteur bei verdi publik

"Wenigen Reichen gehört die halbe Welt", titelte im Januar der Bayerische Rundfunk: Die 62 reichsten Menschen der Welt besitzen - zusammen - aktuell genauso viel wie die 3,6 Milliarden Menschen der ärmeren Hälfte der Erdbevölkerung. Und umgekehrt: Ein Prozent der Weltbevölkerung nennt fast die Hälfte des weltweit angehäuften Reichtums sein Eigen. Diese nüchternen Zahlen hat Oxfam vorgelegt, die altehrwürdige, weltweit aktive Nothilfe- und Entwicklungsorganisation mit Sitz im englischen Oxford.

Und dieser globale Trend setzt sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit über die Kontinente und Staaten bis in alle Regionen der Welt fort. Dabei ist besonders auch in Deutschland der Graben zwischen Arm und Reich inzwischen so tief, dass man von oben kaum noch den Grund sehen kann und der Anteil derjenigen, die hierzulande "von Armut bedroht" sind, "trotz guter wirtschaftlicher Lage und eines robusten Arbeitsmarktes" immer weiter wächst, wie es in einer Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes heißt.

Noch beeindruckender als die Größenordnungen ist die rasende Dynamik, mit der weltweit die Konzentration von Einkommen und Vermögen vorangetrieben wird - ohne jegliche ökonomische Sinnhaftigkeit, ohne nennenswerte demokratische Kontrolle, von moralischen Kategorien wie Humanität und sozialer Gerechtigkeit völlig zu schweigen. Im Vorjahr waren es nämlich noch 80 extrem Reiche, die unter sich genauso viel Besitz angehäuft hatten, wie sich die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung teilen musste - eine Verschiebung um rund ein Drittel in einem einzigen Jahr. Es ist also absehbar, dass über kurz oder lang eine Handvoll Leute einen Großteil der Welt besitzen und beherrschen wird.

Zu den Grundlagen dieses unermesslichen Reichtums gehört das todbringende Elend, das am anderen Ende der weltweiten Vermögensskala immer weiter um sich greift. Täglich sterben 50.000 Menschen an Hunger, die weniger als nichts haben. Hunderte Millionen haben nichts, auch ihre Arbeitskraft kauft ihnen niemand ab. Ihr Dasein ist ein täglicher Kampf ums Überleben. Vor 50 Jahren verkündeten die Vereinten Nationen das Ziel, dass die Industrieländer 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit einsetzen sollten. 2015 wollten sie es erreichen, versprachen später die Länder Europas. Realisiert haben es Schweden, Norwegen, Luxemburg, Dänemark und die Niederlande. Deutschland "gibt" gerade einmal 0,4 Prozent.

Da darf sich niemand wundern, dass die Konkurrenz um die immer knapper werdenden Güter vor allem in vielen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens in gewaltsame, auch kriegerische Auseinandersetzungen mündet, vor denen Millionen Menschen flüchten müssen. Für deren notdürftige Versorgung in den Nachbarländern fehlen den internationalen Hilfsorganisationen dann - vergleichsweise - lächerliche drei, vier Milliarden Euro, weil sie auch hier von den reichen Ländern finanziell an der kurzen Leine gehalten werden.

In der Folge versuchen diejenigen unter den Flüchtenden, die noch einen Rest an Mut und Kraft haben, in Weltgegenden zu gelangen, wo ihnen ein Überleben möglich scheint. Zu den wenigen politisch Verantwortlichen, denen hierzulande der klare Blick auf die Ursachen der weltweiten Fluchtbewegungen noch nicht abhanden gekommen ist, zählt Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU). Er braucht keine 130 Milliarden Euro (wie seine Kabinettskollegin von der Leyen für die Aufrüstung der Bundeswehr), sondern wäre mit einem Bruchteil davon zufrieden im Interesse der Gedemütigten dieser Welt: "Die Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen, haben bereits seit mehreren Jahren in Zeltstädten, Kellern und Ziegenställen ohne Wasser und Strom gesessen." Es sei "beschämend, dass die Weltgemeinschaft nicht in der Lage ist, das Überleben vor Ort zu sichern". Und: "Wir haben unseren Wohlstand auf dem Rücken der Entwicklungsländer aufgebaut. Das wird nicht mehr lange gut gehen."

Also brauchen wir - global, regional und lokal - den grundlegenden Wandel einer "Wirtschaft, die tötet", wie Papst Franziskus das weltweite "Wirtschaftssystem für die Superreichen" (Titel der jüngsten Oxfam-Studie) genannt hat. Für vordringlich hält die Nichtregierungsorganisation dabei mehr Steuergerechtigkeit und eine Austrocknung der Steueroasen, eine Verpflichtung von Unternehmen zu einer öffentlichen, länderbezogenen Berichterstattung, ein Ende des ruinösen Wettlaufs um die niedrigsten Steuersätze, faire Steuern und eine Reform des internationalen Steuersystems. Denn, so der selige Mahatma Gandhi: "Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier." Deutschland erst recht.

Hunderte Millionen haben nichts. Ihr Dasein ist ein täglicher Kampf ums Überleben