Joachim Krause (Hrsg.): Fremde Eltern

Wie viel näher Geschichte durch erzählte Geschichten statt durch Fakten aus Geschichtsbüchern kommt, zeigt das Buch "Fremde Eltern". Ein Buch, in dem zeitgeschichtliche Dokumente durch subjektive Aufzeichnungen aus Tagebüchern und Briefen ergänzt werden. Joachim Krause - Chemiker, Theologe und Publizist - und seine Geschwister entdecken eines Tages ziemlich Verstörendes aus den Jahren 1933 bis 1945 auf dem Dachboden des elterlichen Hauses. Mit der Veröffentlichung zögern sie, schließlich handelt es sich um die Hinterlassenschaft der Eltern Christian und Margarete (geboren 1914 und 1915; gestorben 2000 und 1995). Beide lernten sich 1931 kennen und heirateten 1943. In ihren Briefen geht es um Privates, um ihr Verhältnis, ihre Liebe zueinander, um Alltägliches - aber auch um den Glauben an Gott und an Adolf Hitler, ihre Haltung zum Nationalsozialismus, zum Juden- und Christentum, zur Kirche, zum Krieg.

Vater Christian schreibt als Oberschüler, als Theologiestudent, Vikar und Pfarrer in der "Bekennenden Kirche", als Soldat niederen bis höheren Grades im "Heimaturlaub" und aus "Feindesland", später als Kriegsgefangener. Mutter Margarete schreibt anfangs als Mitglied im "Bund deutscher Mädel", später aus dem "Frauenarbeitsdienst" und der "Landfrauenschule", von Lehrjahren auf norddeutschen Bauernhöfen, als Studentin im "Landdienstbetreuungseinsatz", als "Landwirtschaftliche Lehrerin und Wirtschaftsberaterin" im ehemals polnischen Gebiet. Zunächst sind am Briefwechsel auch Verwandte beteiligt, so Christians Bruder Helmut (geboren 1915), dem sich Margarete liebend verbunden fühlt - bis zu seinem "Heldentod" 1941.

Im Dialog zwischen Margarete und Christian gibt es manchmal Kontroversen; sie teilt nicht seine bibelfeste Frömmigkeit, er nicht ihre fanatische Hingabe an den Führer und seine "Vorsehung". Doch über die vermeintlich welthistorische Mission Nazideutschlands sind sie sich einig - von gelegentlichen Zweifeln Christians abgesehen. Sie sind belesen, gebildet, bilden sich etwas ein auf ihre moralische Gesinnung. Sie sind empfindsam in ihrer Privatsphäre - aber kaum gegenüber dem Verderben, das über die "Feinde" gebracht wird.

Die Lektüre der verschiedenen Briefwechsel zeigt nicht nur, wie offensichtlich Millionen Menschen, infiziert mit demagogischer Propaganda, gedacht und gehandelt haben. Sondern auch, wie darüber millionenfach geschwiegen wurde und wird. Man liest gespannt, wie die Protagonisten mit dem Untergang des "Tausendjährigen Reiches" zurecht- und in der Neuzeit ankommen, ob und wie sie die Geschichte und ihr eigenes Verhalten reflektieren und welche Fragen schließlich die nachgeborenen Familienmitglieder umtreiben. Christoph Kuhn

Joachim Krause (Herausgeber): FREMDE ELTERN. Zeitgeschichte in Tagebüchern und Briefen 1933 - 1945. Sax-Verlag. 2016, 408 Seiten, 24,80 €, ISBN 978-3-86729-177-4


Nathan Hill: Geister

Tatort Chicago: Eine ältere Dame schmeißt mit Steinen auf den rechtspopulistischen Präsidentschafts- kandidaten. Die Medien bauschen den Fall zu einem hinterhältigen Anschlag auf. Der junge Uni-Dozent Samuel erkennt in der Frau seine fremde Mutter, die ihn als Kind wortlos verlassen hatte. Er beginnt ihre Story zu recherchieren, um sie in einem Enthüllungsbuch auszuschlachten. Den Dreh- und Angelpunkt findet er in den Studentenprotesten der späten 60er. In einer Gruppe von Menschen, die lebenslang in einem verhängnisvollen Geflecht aus Enttäuschung, Angst, Hass und Rache gefangen sind. Je näher Samuel der Wahrheit kommt, desto mehr ist er auch selbst involviert. Er muss erkennen, wie sehr das Leben auf grotesken Irrtümern beruhen kann. Dieser voluminöse Roman bietet eine spannende Familiengeschichte und ein breit angelegtes Panoramabild der amerikanischen Gesellschaft. Er ist hochaktuell, zugleich aber auch zeitlos. Und steckt bis zum Schluss voll überraschender Wendungen. Eine ideale Lektüre für lange Winterabende. Tina Spessert

Piper Verlag, Ü: Werner Löcher-Lawrence/Katrin Behringer, 864 S., 25 €


Olaf Jahnke: Patientenrache

Mit Tod eines Revisors führte der Frankfurter Journalist Olaf Jahnke seinen sympathisch normalen und furchtlosen Privatdetektiv Roland Bernau ein, die Rezensentin wünschte einen weiteren Fall. Und Jahnke legt tatsächlich noch einen drauf: Ärztliche Kunstfehler, deren Opfer sich jahrelang mit unwilligen Versicherungen, mauernden Kliniken und fehlerlosen Ärzten rumschlagen müssen, sind das brisante Thema, aus dem er gekonnt raffiniert einen hoch spannenden und bedrückenden Plot bastelt. Versicherungsangestellte, Ärzte, Juristen oder Gutachter überleben (meist) knapp eine kreative Vielfalt von Attacken mit Dachlatten, Schrotflinten oder durchgetrennten Kletterseilen. Bis die Anschläge tödlich werden und auch dem hartnäckigen Ermittler sehr nahe kommen, rast man mit ihm kreuz und quer durch die Staus im Rhein-Main-Autobahnnetz von einem geschädigten Patienten, sprich potenziellen Mörder, zum nächsten. Tatsächlich gelingt es Jahnke, diese Menschen auf jeweils nur wenigen Seiten mit ihren Leiden, ihrer Verzweiflung und ihrem Ausgeliefertsein an das Schweigekartell differenziert zu charakterisieren und Empathie für sie zu wecken. Die im ersten Band sich zart entwickelnde Liebe zwischen dem Detektiv und einer Journalistin nimmt Fahrt auf - bevor sie zwischen wilden Verfolgungsjagden (die kann Jahnke richtig gut) und grässlichen Attentaten härtesten Prüfungen ausgesetzt wird. Dann freuen wir uns mal auf den dritten Band, aber ob sie sich dann wirklich kriegen, darf angesichts der Fälle, die Jahnke sich ausdenkt, bezweifelt werden. Gut so. Ulla Lessmann

Größenwahn Verlag, 295 S., 16,90 €


Margarete Stokowski: Untenrum Frei

Ein feministischer Text steht wahrscheinlich nicht ganz oben auf dem Wunschzettel, ein leichter, lustiger Roman eher, was mit Liebe vielleicht. Ein Fehler. Um Liebe geht es, auf einem viel größeren Level, nämlich auch bei Margarete Stokowski, ehemalige taz-, heute Spiegel-Kolumnistin. Um Liebe zu sich selbst, dann um Liebe und Sex und all die Probleme, die sie immer noch und gerade jetzt in unserer Gesellschaft mit sich bringt. Und dann geht es um Macht, um Selbstbestimmung und Freiheit, um all die kleinen Mechanismen in unserem Alltag, die davon zeugen, wie viel noch geschehen muss, bis wir auch nur ansatzweise von Gerechtigkeit sprechen können. Und tatsächlich ist das keine leichte Kost, dicht gepackt findet sich so viel in sieben Kapiteln. Doch Margarete Stokowski erzählt auf Augenhöhe, ironisch, frech, auch wissenschaftlich, definitiv aufrüttelnd, mit einem enormen Schatz an Hintergrundwissen. Dabei illustriert sie alles mit ihrem eigenen, drastischen Lebensweg und schubst die Leser so in die Selbstreflektion und das Hinterfragen. Womit sie auch ihr Ziel erreicht: Keine einfachen Antworten, sondern Anstöße für neue, eigene, persönliche Auseinandersetzungen zu geben. Feline Mansch

Rowohlt Verlag 2016, 256 S., 19,95 €