Im Handel wird gestreikt, wie hier in Stuttgart

Außergewöhnlich heftig fällt seit einigen Wochen der Schlagabtausch zwischen den Tarifparteien im Handel aus. Während ver.di vor Altersarmut warnt, verbreiten die Arbeitgeber, ver.di schüre lediglich Angst, schließlich werde im Einzelhandel "gutes Geld für gute Arbeit" verdient. So versucht der Unternehmerverband HDE zu kontern. Doch die Zahlen sagen etwas anderes. Jede dritte Verkäuferin, jeder dritte Kassierer verdient nach aktuellen Angaben der Bundesregierung weniger als zehn Euro brutto. Die Konsequenz: Hunderttausende müssen mit Armutsrenten rechnen.

Seit dem Frühjahr vermittelt auch das von vielen Streiks geprägte Tarifgeschehen im Einzel- und Versandhandel, wo nur noch 30 Prozent des Personals tarifgebunden arbeiten, eine andere Sicht. Bis zum Anfang der zweiten Juli-Woche war der Konflikt mit den Arbeitgebern noch nicht ausgestanden. Sie peilten "Lohnsenkungen für alle" an, so der Vorwurf der baden-württembergischen ver.di-Tarifkommission nach ergebnisloser Verhandlung am 30. Juni. Das Angebot der Gegenseite lag bei 1,5 Prozent mehr ab Juni 2017 und ein Prozent ab April 2018 - und damit "unter den voraussichtlichen Teuerungsraten", so ver.di-Verhandlungsführer Bernhard Franke. Auch die angebotenen Einmalzahlungen von je 150 Euro machten die Minus-Offerte nicht akzeptabel, zumal ver.di für Anhebungen kämpft, die sich dauerhaft in der Tariftabelle bemerkbar machen. So geschehen im Groß- und Außenhandel, wo im Juni in NRW ein erster Tarifabschluss mit einem Lohnplus von 2,5 Prozent ab August 2017 und zwei Prozent ab Mai 2018 gelang. Die Azubis erhalten jeweils zum 1. September dieselben Erhöhungen.

Mehr als 3.000 Streiks

Bis Redaktionsschluss zogen die meisten anderen Tarifregionen mit vergleichbaren Großhandelsergebnissen nach, während für den Einzel- und Versandhandel noch kein Durchbruch gelang.

Das muss im Handel drin sein

Die bundesweit mehr als 3.000 Streiks im Einzelhandel wirkten sich am 4. Juli zunächst wieder in NRW aus, kurz darauf auch in Bayern und Baden-Württemberg. Dort zogen die Arbeitgeber die angebotenen Einmalzahlungen zurück, sie wollen die Entgelte um zwei Prozent in diesem Jahr sowie 1,8 Prozent ab Mai 2018 erhöhen. "Noch immer viel zu wenig", befand ver.di. "Die Arbeitgeber riskieren einen heißen Sommer!"

Um doch noch zu positiven Ergebnissen zu kommen, hat ver.di die Arbeitskämpfe ausgeweitet, die Palette der Streikbetriebe reicht von Amazon bis Zara. Gleichzeitig blieb mit der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge eine dringende Forderung der Tarifkommissionen auf der Tagesordnung, da der HDE und seine Regionalverbände sie bislang kategorisch ablehnen.

Auch Politiker fordern Vertrag für alle

Bis zum Jahr 2000 war es üblich, die jeweiligen Vereinbarungen für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Seit die Arbeitgeber davon abrückten und eine Verbandsmitgliedschaft "ohne Tarifbindung" zulassen, breiten sich Tarifflucht und untertarifliche Bezahlung rasant aus. Dafür sorgt auch der Verdrängungswettbewerb, bei dem die großen Unternehmen Druck auf die Personalkosten erzeugen. Eine Antwort darauf ist die ver.di-Kampagne Einer für alle - Tarifverträge, die für alle gelten, die öffentliches Interesse für die Situation im Handel und Bewegung in der Politik weckt. Für eine Reform, die allgemeinverbindliche Tarifverträge erleichtern und damit das Risiko millionenfacher Altersarmut stark verringern soll, haben sich schon zahlreiche Politiker mit ihrer Unterschrift in einer Postkartenaktion an die Regierung bzw. in einem "Kontrakt für die Zukunft der Beschäftigten" ausgesprochen.

Doch die Situation ist dramatisch. "70 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel sind akut von Altersarmut bedroht", so Alfred Birkenmayer, ver.di-Vorsitzender für den Handel in München und Betriebsrat bei Kaufhof, auf einer Streikkundgebung. "Jeder Euro mehr ist ein wichtiger Schritt im Kampf für ein würdevolles Leben im Alter."