„Der Kopp” von Karl Marx macht dieser Tage einiges mit

Katharina Hessel wollte beim Stadtfest in Chemnitz nur die Aufführung der Musikschule sehen. Doch als sie am 26. August von ihrem Auto zur Stadthalle geht, fällt ihr auf, dass die meisten Stände bereits abgebaut werden. Bekannte, die sie trifft, sind sprachlos, dann sieht sie, wie ein Trupp von „etwa 20 schwarzgekleideten durchtrainierten jungen Männern“ einem einzelnen Mann hinterherjagt. Die 76-Jährige ist schockiert, bekommt Angst. Im Windschatten einer Polizeigruppe geht sie wieder zum Auto zurück. Erst auf dem Rückweg erklärt sich für sie das Geschehene, sie erfährt von dem gewaltsamen Tod des 35-jährigen Daniel H. in der Nacht zuvor und davon, wie rechte Gruppen diesen Tod für ihre Ansichten instrumentalisieren.

Am folgenden Donnerstag wollte sie am sogenannten Sachsengespräch mit Ministerpräsident Michael Kretschmer, CDU, teilnehmen. Die Mehrheit der Gäste sei demokratisch gewesen, „die wollen was voranbringen“, so wie sie auch. Dennoch hat Katharina Hessel den Veranstaltungsort gleich wieder verlassen. Rund 30 Prozent der dort Anwesenden „waren nicht freundlich gestimmt“, hätten dazwischen gebrüllt. „Wenn die Veranstaltung zu Ende ist, machen die doch weiter“, begründet sie ihre Entscheidung. Auch die Demonstration vor der Tür habe ihr Angst gemacht.

Aber am 1. September ist sie wieder in die Stadt gegangen, „zu den Demokraten“, wie sie selber sagt, diesmal begleitet von ihrem Sohn. Erschreckt war sie über die hohe Zahl der Rechtsextremen, die beim AfD-„Trauermarsch” mitliefen. Rechtes Gedankengut habe es in Chemnitz schon lange gegeben. Daher hätten die Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrunds, NSU, die zehn Menschen ermordet haben, Ende der 1990er Jahre auch in Chemnitz untertauchen können, meint Katharina Hessel.

Doch sieht Hessel Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit nicht allein als Chemnitzer Problem, es sei mindestens ein sächsisches, wenn nicht ein gesamtdeutsches. Seit vor drei Jahren die islamfeindliche Pegida begonnen habe, in Dresden zu demonstrieren, würden sich immer mehr Leute offen so äußern. Hessel, seit 60 Jahren aktive Gewerkschafterin, sieht die Ursachen darin, dass die Politik den sozialen Bereich vernachlässigt habe. Außerdem müsse der Staat mehr Sicherheit geben, konsequenter und transparenter sein. Sie begrüßt es zwar, dass die stellvertretende SPD-Vorsitzende Manuela Schwesig oder Familienministerin Franziska Giffey, SPD, in Chemnitz gewesen seien, aber „es müssten viel mehr kommen, aus der Politik und auch von den Gewerkschaften“.

Gefreut hat sie , dass so viele Menschen aus ganz Deutschland zu dem Konzert #wirsindmehr in Chemnitz waren. Sie selbst ist an dem Abend in die Innenstadt gelaufen, hat sich vier Stunden lang die Auftritte angesehen, hat mit vielen anderen Konzertbesucher/innen geredet. „Das muss uns Mut geben“, sagt sie.

Julian Anke ist in Chemnitz geboren und aufgewachsen. Mittlerweile arbeitet er bei ver.di, kümmert sich um die Jugendarbeit in Chemnitz und Zwickau. Mit Fahnen und Transparenten ist er mit ver.di- und anderen Gewerkschaftsjugendlichen am 3. September zu dem Konzert #wirsindmehr gegangen, hat dort Flagge gezeigt. Dort seien sie auch von gänzlich Unbekannten aus der ganzen Republik angesprochen worden, die es gut fanden, hier ihre Gewerkschaft zu sehen. „Das war ein tolles Gefühl. Es hat gezeigt, wie es auch anders sein kann“, sagt er.

Zum Beginn der Woche noch hat er das Gegenteil erlebt. Gemeinsam mit anderen Gewerkschafter/innen war er bei einer Demonstration, sah sich dort mit anderen rund 1.000 Demonstrant/innen einer „leider deutlich größeren Zahl“ von Rechten gegenüber. Von der Polizei fühlte er sich nur unzureichend geschützt, insbesondere als nach Ende der Demo die Rechten grüppchenweise in die Stadt gezogen seien. In dieser unklaren Stimmung habe er sich sehr unwohl gefühlt.

Dennoch war es für den gebürtigen Chemnitzer selbstverständlich, zu der Gegendemonstration zu gehen. „Gewalt, egal in welcher Richtung, darf nicht sein“, sagt er. Nach dem Tod von Daniel H. hat er insbesondere im Internet, in Kommentaren bei Facebook und auf anderen Seiten gespürt, wie schnell sich die Fronten in der Stadt verhärtet haben. Probleme mit Rechten habe es auch schon vor den Ereignissen nach dem Stadtfest gegeben, „insbesondere in einigen Stadtteilen. Viele dort fühlen sich unverstanden“, sagt Julian Anke. Da helfe es nur zu reden und weiter zu diskutieren. Antje Koch ist spontan nach Chemnitz gefahren, um bei dem Konzert #wirsindmehr dabei zu sein. „Wir haben die Berichte in den Medien gesehen, da wollten wir auch ein Zeichen setzen“, sagt die Jugendsekretärin im ver.di-Bezirk Region Saar-Trier. Erst am Freitag vor dem Konzert hat sie angefangen, eine Gruppe zu organisieren. Das Interesse war groß, immerhin konnten sich vier ehrenamtliche und vier hauptamtliche ver.dianer/innen so kurzfristig für den Trip freinehmen.

Besonders gefallen hat ihnen die große Beteiligung der Gewerkschaften und dass sie über die Redebeiträge einen Eindruck von der Situation vor Ort bekommen konnten. Sie wollen den Kontakt zu ver.di in Chemnitz halten und die Gewerkschafter/innen dort – falls nötig – mit weiteren Soli-Aktionen unterstützen.#wirsindmehr Seite 16