Auf Seattle zu blicken, ist eine Frage der Perspektive: Rechts im Bild die Space Needle, Aussichtsturm und Wahrzeichen der Stadt, links das Museum of Pop, durch das die Monorail saust

Einst gaben Musiker wie Jimi Hendrix und Bands wie Nirvana den Ton im vom Wasser umgebenen Seattle an. Heute gibt Amazon den Takt der Wirtschaftsmetropole vor

Im dritten Jahr in Folge ist Seattle im nordwestlichen US-Staat Washington – neben ihrem Dauerpreis als lebenswerteste Stadt der USA – zur City mit den meisten Baukränen gekürt worden. Den schnellen Wandel spüren Stadtreisende beim Spaziergang durch das Stadtzentrum. Es wird gebaut, gehämmert und gegraben, man sieht, die Wirtschaft boomt. Und wann immer man einen der Bauarbeiter fragt, was hier entsteht, kommt über den Presslufthammer geflogen: „Amazon, honey!“.

Bei Amazon arbeiten allein in Seattle 45.000 Menschen. Früh morgens begegnet man ihnen auf ihrem Weg zur Arbeit. Es sind die Informatiker in ihren Dreißigern mit Rucksack, Käppi, Cargohose und einem Jahreseinkommen ab 120.000 Dollar. Sie radeln mit Tech-Bikes auf den ausgedehnten Radwegen der hügeligen Stadt oder hasten zu Fuß zur Arbeit. Erst zum Feierabend begegnet man ihnen wieder. Bis dahin verschwinden sie in einem der vielen Hochhäuser, die Amazon aufgekauft und in Corporate-Farben renoviert oder neu gebaut hat.

Adrenalin garantiert

Seattle ist von Wasser umgeben. Im Osten vom Lake Washington, im Westen vom Puget Sound, einer insel- und schifffahrtsreichen Meeresbucht. Am besten sieht man das vom Wahrzeichen seit 1962, der Space Needle, aus. Neu an dem Aussichtsturm ist der jüngst eröffnete rotierende Glasboden. Der hält, was er an Adrenalin verspricht. Das Betreten in einer Höhe von 158 Metern ist eine mentale Herausforderung. Eine Reinigungskraft schiebt klammernd ihre Bohnermaschine vorbei. Eine Woche, sagt sie, habe sie gebraucht, um sich daran zu gewöhnen. Und ist noch immer froh, sich festhalten zu können. Von hier oben sind viele der Groß-Unternehmen zu sehen, die in Seattle den Takt vorgeben. Microsoft drüben im Vorort Redmond, die elegant geschwungene Bill-Gates-Stiftung, Starbucks gleich in der Nähe, Nordstrom, Boeing. Täglich kommen Start-Ups hinzu, die Arbeitslosigkeit liegt bei drei Prozent.

Hier zu wohnen, ist teuer. Die Mieten sind in den letzten acht Jahren um 96 Prozent gestiegen. Nicht umsonst beklagt die lokale Band „Death Cab for Cuties“ in einem ihrer Hits das Verdrängungselend durch die Townhouse-Generation. Die Alternativszene sieht sich dem Alphatier der neuen Zeit ausgeliefert: dem reichen, Tesla fahrenden Individual-Techie in seiner Binärblase. Wie sehr sich das Lebensgefühl seit den Zeiten von Jimi Hendrix, Nirvana und dem weltberühmt gewordenen Sub-Pop-Musiklabel gewandelt hat, dem kann man am besten im Museum of Pop nachspüren.

Jüngst hat Bill Gates angekündigt, mit 500 Millionen Dollar für bezahlbaren Wohnraum sorgen zu wollen, um die steigende Obdachlosigkeit einzudämmen. Viele Beschäftigte wohnen bereits auf dem nahen Bainbridge Island und pendeln. Sie haben einen herrlichen Arbeitsweg, wenn sie sich in der Frühe mit der Fähre der glitzernden Skyline Seattles nähern. Am Dock schwappen sie mit dem Fahrrad oder dem Auto aus dem Bauch des Schiffes in die nahe Innenstadt, während Touristen für einen Abstecher in die Natur an Bord gehen.

Überbordendes Grün

Bainbridge Island lockt mit überbordendem Grün. Hier und auf der durch Straßen verbundenen, angrenzenden Olympic Halbinsel befinden sich die Kraftorte eines gemäßigten Regenwalds und seiner heißen Quellen. Viele kennen die verwunschenen Wälder aus den Twilight-Filmen. Fährt man auf der Olympic Halbinsel gen Nordwesten, erreicht man die Stadt Forks, in der das Vampirdrama spielt. Gedreht wurden die Filme jedoch in Oregon. Das hindert die Fans nicht, sich jährlich beim Forks-Festival zu treffen, um am Pazifik-Strand entlang zu träumen. Auf dem Rückweg stärkt ein Essen in der Lake Crescent Lodge mit Ausblick auf den See. Am Ufer lässt sich ein rar gewordenes Gut genießen: vollkommene Stille.

Ist man in der Umgebung Seattles unterwegs, lohnt sich der Abstecher in den Norden nach Everett, etwa 40 Kilometer entfernt. Hier kann man die Boeing-Werke besichtigen. Ex-Pilot Tom Swigert führt durch Hallen, deren Ende man nicht sehen kann. An Einzelteilen von 21 Flugzeugen werkeln in drei Schichten 35.000 Beschäftigte. Von der Besuchergalerie aus sieht man höchstens 15 Boings, unter anderem eine 777, den neuen Dreamliner 787, den Jumbo 747-8 und eine alte 767.

Wer zum Theater Unexpected Productions geht, erwartet viel Kaugummi

Wer es bis hierher geschafft hat, fährt auch noch 50 Kilometer weiter in die herrliche Landschaft der Snoqualmie Falls, besser bekannt als Twin Peaks. Hier steht die Salish Lodge, den Fans der TV-Serie „Twin Peaks“ als das „Great Northern Hotel“ vertraut, wo sich der aus dem Vorspann bekannte Wasserfall in die Tiefe stürzt. Auch am legendären Kaffee und Kirschkuchen in Twede’s Café führt kein Weg vorbei.

Die Tür geht auf und ein FBI-Agent betritt den Raum. Es ist David Israel, ein Twin-Peaks-Fan der ersten Stunde. Er hat aus seiner Leidenschaft einen Beruf gemacht und führt als Guide zu den Drehorten. Sein FBI-Schild ist natürlich fake. Nach ersten Wirrungen haben sich die örtlichen Behörden an den falschen Agenten gewöhnt.

Elastisches Kaugummiziehen

Zurück in der Stadt, thront oberhalb des Hafens der älteste Bauernmarkt Seattles, der Pike Place Market. Seit 1907 gibt es dort Frisches aus der Region. Ein paar Schritte entfernt steht man vor einem elastischen Kunstwerk: der Gum Wall. Hier liefern sich Gäste des Off-Theaters Unexpected Productions seit Jahren ein Kaugummiziehen mit der Stadt. Sie klebten eines Tages einen Penny mithilfe ihres Kaugummis an die Backsteinwände. Und nun kommt alle naselang die Verwaltung und entfernt eine bunte Gummipracht. Aber schon nach wenigen Tagen klebt alles wie zuvor. Theaterdirektor Kent L. Whipple nimmt es mit Humor und einem Spachtel. Damit kratzt er täglich den Eingang zum Theater frei. Und verteilt Kaugummis an die, die keinen dabei haben.

In der Pine Street schließlich stehen sich die alte und die neue Welt gegenüber wie Cowboys zum Duell in der Mittagssonne. Es ist ein ungleicher Kampf, und der Sieger steht eigentlich fest: Versehen mit blickdichten Scheiben hat sich auch hier ein Amazon-Bürohochhaus aufgetürmt. Genau vor den üppig dekorierten Schaufenstern einer klassischen Buchhandlung. Die Filiale des ehrwürdigen New Yorker Stammhauses Barnes & Noble trotzt dem Lauf der Zeit mit guter Beratung und gepflegtem Sortiment.

Und dann ist Feierabend. Aus den Bürotürmen strömen die IT-Experten vom Morgen. Sie eilen am kugeligen Sitzungsgebäude „Amazon Sphere“ vorbei und ver- sorgen sich im Supermarkt „Amazon Go“ gleich nebenan mit vorgefertigten Lebensmitteln. Was den Neukunden noch verunsichert, ist hier selbstverständlich. Es gibt keine Mitarbeiter. Man bedient sich selbst, geht durch die Schranke am Ausgang und die entsprechende App auf dem Smartphone hat alle Produkte aufgezeichnet. Abrechnung folgt auf dem Fuße.

Sind Arbeit und Einkauf erledigt, ziehen nicht nur die Amazon-Werktätigen plötzlich einen ganz eigenen Geruch hinter sich her. Marihuana. Seattle hat den Gebrauch legalisiert und es scheint völlig normal, sich auf dem Weg nach Hause erst mal einen Joint anzuzünden. Das Fachgeschäft „Have a Heart“ sieht aus wie ein Apple-Store und bietet die Pflanze in den unterschiedlichsten Formen an, vom Fertigjoint bis zu „edibles“, den Pralinen mit Trüffel. Selbst für malade Haustiere ist gesorgt. Da staunt der Fachmann, und der Laie bringt besser seinen Reisepass mit, sonst hat er keinen Zutritt.

Tipps

Infos visitseattle.de

AnreiseAir Lingus über Dublin (airlingus.com). Vorteil zum Nonstop-Flug: Zoll und Einreise in die USA werden in Dublin erledigt, das erspart in Seattle die Wartezeit.

SchlafenSeattle: www.hotelmaxseattle.comUmgebung: Red Lion Hotel Port Angeles www.redlion.com/portangeles

EssenLake Crescent Lodgewww.olympicnationalparks.com/lodging/lake-crrescent-lodgeAusflügewww.twinpeakstour.comwww.bainbridgeisland.com/ferrywww.olympicpeninsula.org