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Die Autorin mit ihren ElternChristian Jungeblodt

Eltern werden älter. Und dann brauchen sie häufig Unterstützung. Das, was Kinder oft lange Zeit verdrängen, trifft meine Familie während eines Urlaubs an der Ostsee. Wir sind wandern, als meine Mutter anruft. Sie redet und redet, schildert eine Odyssee zu verschiedenen Ärzten und Krankenhäusern, lange Wartezeiten und spricht von Auskünften, von denen sie mir aber nur sagen kann: "Das habe ich nicht ganz verstanden", und: "Nein, den Doktor habe ich nicht danach gefragt." Der Schlüsselsatz fällt versteckt in einem kleinen Nebensatz: "..., denn dein Vater hatte ja einen Schlaganfall".

Nein, er hatte keinen Schlaganfall, sonst hätte mein Vater in diesem Moment nicht quietschvergnügt neben meiner Mutter auf dem Sofa gesessen. Aber die nicht neue Aussage des Hausarztes, mein Vater sei schlaganfallgefährdet, hatte sich bei meiner Mutter zu einer Diagnose verfestigt.

Für uns steht in dem Moment fest, dass diese Situation aus einer Entfernung von 600 Kilometern nicht mehr zu bewältigen ist. Sie wohnen im Rheinland und wir, wenn wir nicht urlauben, in Berlin. Doch was tun? Die Eltern nach Berlin zu holen, blieb für zwei Vollzeitberufstätige die einzige Möglichkeit. Aber lassen sich zwei Endsiebziger, die fast ihr ganzes Leben in ein und dem selben Dorf verbracht haben, noch verpflanzen? Freunde und Verwandte meiner Eltern waren in ähnlichen Situationen, waren teilweise schon zu den Kindern gezogen oder in Pflegeeinrichtungen gekommen, einige waren bereits verstorben. Gegenseitige Hilfe war nicht mehr zu erwarten.

Der Mittelweg

Der vermeintlich schwerste Schritt erwies sich im Nachhinein als der unkomplizierteste. "Nach Berlin? Ich würde ja, aber dein Vater...", sagte die Mutter, und der Vater argumentierte umgekehrt. Nur wenige Wochen später besichtige ich mit den angereisten Eltern in Berlin drei unterschiedliche seniorenfreundliche Wohnungen, eine ohne, eine mit ein bisschen und eine mit viel Betreuung, jeweils in einer entsprechenden Anlage. Meine Eltern entscheiden sich für den Mittelweg.

Drei Monate später steht der Umzug an. Zeit genug, um die alte Wohnung auszuräumen, in der sich über 50 Jahre vieles angesammelt hat. Die neue Wohnung ist nur halb so groß, die Eltern müssen sich von Möbeln, Hausrat und Erinnerungen trennen. Ein letztes Mal wird mit den noch verbliebenen Freunden und Verwandten gefeiert: die Goldene Hochzeit und damit verbunden auch der Abschied.

Im Blick zurück nach vier Jahren glaube ich, dass wir damals einen günstigen Zeitpunkt erwischt haben. Beide Eltern waren fit genug, um bewusst die Entscheidung für einen Umzug zu treffen. Sie haben selbst gespürt, dass das Alleinleben auf dem Land immer schwieriger wird. Ein Dorf ohne Einkaufsmöglichkeit, ein zunehmend verbeultes Auto, 25 Stufen hoch zur Wohnung – dass die Probleme nicht kleiner werden würden, war absehbar und auch ihnen klar.

Denn mit ihrem Alter hatten sich meine Eltern schon länger auseinandergesetzt. Sie hatten sich die Details der Patient*innenverfügung vom Hausarzt erklären lassen. Ein Wochenende lang hatten wir gemeinsam darüber geredet, damit ich ihre Entscheidung im hoffentlich noch weit in der Ferne liegenden Ernstfall nachvollziehen kann. Auch eine Vorsorgevollmacht hatten wir ausgefüllt. Dabei ist mir damals klar geworden, dass es auch für mich nicht zu früh ist, diese Angelegenheiten zu regeln. Ein Unfall kann einen jederzeit treffen.

Vollmachten für mich über ihre Bankkonten und für sonstige finanzielle Angelegenheiten hatten sie schon lange ausgestellt. Ich wusste auch immer, wo die Unterlagen liegen, welche Konten und Versicherungen es überhaupt gibt. Auch wie nötig eine Liste der verschiedenen Accounts im Internet samt Passwörtern sein kann, haben wir mittlerweile erfahren.

Noch weitgehend selbstständig

In Berlin erobern sich meine Eltern schnell ihren neuen Kiez. Sie gehen weitgehend alleine einkaufen, machen Spaziergänge, vornehmlich meine Mutter nutzt einige der Gemeinschaftsangebote in der Wohnanlage, spielt Karten oder geht zur Gymnastik. Immer noch, muss man fast sagen. Denn die Zeit ist nicht stehen geblieben, zwei Rollatoren stehen im Flur, beide haben jetzt Pflegegrade. Drei Krankenhausaufenthalte haben ihre Spuren hinterlassen. Ich kenne mittlerweile den Unterschied zwischen medizinisch verordneten und pflegerischen Leistungen, zwischen Verhinderungspflege oder Unterstützungsleistungen nach dem sogenannten Entlastungsbetrag und andere Feinheiten. Längst unterstützt uns regelmäßig ein Pflegedienst, und insbesondere ich weiß den Mobilitätsdienst zu schätzen, der beide auch zu Arztbesuchen begleitet, wenn ich das mal nicht schaffe.

Unzählige Fragen habe ich dazu gestellt, ob bei der Krankenkasse, der Rentenversicherung, bei Ärzten – bei denen ich überall als Auskunftsperson hinterlegt bin – und bei anderen Stellen. Überall ist mir geholfen worden, und wenn ich nicht an der richtigen Stelle war, bin ich weitergeleitet worden und habe Tipps bekommen. Eine gute Anlaufstelle ist auch der Pflegestützpunkt. Dieses Angebot gibt es mittlerweile bundesweit*. Werden sie von Kranken- und Pflegekassen finanziert, ist die Beratung unabhängig und kostenlos. Die Stützpunkte helfen nicht nur bei Fragen zur Pflege im engeren Sinne weiter, die Mitarbeiter*innen haben oft auch einen guten Überblick über Unterstützungsangebote, wenn noch kein Pflegegrad bewilligt ist.

Vieles hat sich für uns verändert in den vergangenen vier Jahren. Und ich habe dabei viel gelernt. Mit der neuen Situation hat ein Rollenwechsel stattgefunden, vom Kind hin zu derjenigen, die für die Eltern immer mehr regeln und übernehmen muss, eine ständige Gratwanderung zwischen Hilfe und Bevormundung. Auch für meine Eltern ist der Rollenwechsel nicht einfach. Und die Familie muss sich immer wieder neu sortieren, gerade auch was Abgrenzung oder Alltagsorgani- sation angeht. Wohin uns die nächsten Schritte führen, das wissen wir noch nicht. Aber auch sie werden wir meistern.

*Übersicht über Pflegestützpunkte

bundesweit: zqp.de/beratung-pflege

Für Privat Versicherte:

compass-pflegeberatung.de

Sich kümmern

Kann ein niedlicher Roboter die Pflege entlasten? Die Tagespflege der Caritas in Erlenbach testet Pepper, einen humanoiden Roboter. Er kann zwar die komplexe Arbeit einer Pflegekraft nicht ersetzen. Aber als Helfer mit guten Manieren leistet Pepper mit Spielen, Rätseln und Märchenerzählen einen wertvollen Beitrag. Unsere Reportage auf den Seiten G4 und G5. Auch Saliha Kartag hat sich zeitlebens gekümmert. Vor allem um ihren geliebten Enkel Abdul. Lange nach dem Tod der Großmutter hat er ihr, die als "Gastarbeiterin" nach Deutschland kam, in einem Buch ein Denkmal gesetzt. Unser Portrait auf Seite G3. Gar nicht mehr kümmern will sich im Film "Happy Ending" der Däne Peter. Wie seine Frau reagiert? Der Kulturbeutel auf den Seiten G6 und G7.

Jenny Mansch