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Kreativer Vorschlag – Demo der Studierenden am 20. Juni in Berlin für bessere Unterstützung in der KriseFoto: Chr. v. Polentz / transitfoto.de

Nicht nur in ihrer Studenten-WG sei man in den vergangenen Monaten mitunter an Grenzen gestoßen. "Auch wenn man die Situation insgesamt überblickt, dann tut vieles einfach weh", sagt Charlotte Reineke, die an der Ruhr-Uni Bochum ihr Sozialwissenschaftsstudium abschließen will. Und sie ist in der ver.di-Bundes-Studierenden AG aktiv. Corona habe den Studienalltag komplett verändert. Charlotte Reineke sieht "mehr Belastungen und vertane Chancen".

Das Sommersemester 2020 bedeutete für viele Studierende Kontaktmangel, Geldsorgen und wenig Struktur. Es startete an vielen Unis und Hochschulen verspätet und als reines Digital-Semester: leere Hörsäle, keine regulären Seminare oder Übungen, abgesagte Exkursionen, ausgefallene Praktika, Forschungsprojekte auf Eis, Labore und Bibliotheken lange geschlossen. Die Lehre wurde ins Internet verlegt: Arbeitsaufträge per E-Mail, Web-Seminare und Zoom-Meetings, Sprechstunden mit Lehrkräften via Skype, Kommunikation per App.

Von einem "Solidarsemester 2020" sprach deshalb ein breites studentisches und politisches Bündnis programmatisch und forderte Entlastung. Es sieht Online-Lehre als Provisorium und hat Vorstellungen entwickelt, wie Lehrende und Studierende gemeinsam die Heraus- forderungen der Krise angehen könnten. Theoretisch. Denn am Ende wurden auch unter Corona-Bedingungen Klausuren geschrieben, Prüfungen abgelegt und Abschlussarbeiten fertiggestellt. Alles, außer gewöhnlich.

Qualität leidet

Dass viel Mehrarbeit und Engagement von Professoren und Lehrkräften, aber auch Kreativität und Ausdauer von Studierenden in diesem Sommersemester 2020 stecken, ist unbestreitbar, sonst wäre es im digitalen Chaos versunken. Doch die Qualität der Lehre habe gelitten, meinen fast 70 Prozent der an einer Umfrage beteiligten Geisteswissenschaftler*innen. Studieren als eine Schule des Denkens gehe nicht ohne direkten Austausch. Dass sie "viereckige Augen" bekommen und dennoch höchstens drei Viertel des Pensums geschafft hätten, sagen Student*innen. Kommiliton*innen mit Kind mussten durch Kita-Schließungen viel Betreuungszeit aufbringen, die ihnen fürs Lernen verlorenging. Und Erstsemester klagen, dass sie bisher kaum jemanden persönlich kennen. "Studieren muss man erst lernen", weiß Charlotte, "auch das ist jetzt viel schwieriger."

Hinzu kommt die existenzielle Seite. Im sozialen Netz für Studierende klafft momentan ein riesiges Loch. Die staatliche Unterstützung für Studierende (BAföG), die zur Hälfte als Zuschuss und zur Hälfte als zinsloses staatliches Darlehen gewährt wird, leistet längst nicht mehr den erklärten Beitrag zur Chancengleichheit. Nur gut 11 Prozent aller Studierenden erhalten überhaupt noch etwas aus diesem Topf. Auch ver.di kriti- siert das: Wie reformbedürftig das System sei, zeige Corona umso mehr.

Schon im April hat ver.di ein Sofortprogramm "Studium, Hochschule und Forschung sichern" vorgelegt (mehr dazu auf der nächsten Seite). Zu den dort aufgelisteten Forderungen gehören solche zur Verhinderung sozialer Notlagen. Die Öffnung des BAföG ist eine zentrale Forderung, die auch Student*innenvertretungen, der DGB und Oppositionsparteien bekräftigen. Der Zugang zum BAföG müsse auch für bisher ausgeschlossene Studierende "radikal erleichtert werden", die "Förderung in einen Vollzuschuss umgewandelt werden", heißt es im ver.di-Programm. Dafür hat sich auch Charlotte bei einer Online-Kundgebung im Mai stark gemacht. Am 20. Juni wurden die Forderungen in Berlin auf die Straße getragen, "doch insgesamt hat es den Protesten leider an Reichweite gefehlt", sagt sie.

Jobs eingebüßt

Dabei ist es dringlich: Mehr als zwei Drittel aller Student*innen müssen nebenbei arbeiten. Etliche tun das an Unis und Hochschulen, doch auch in Handel, Gastronomie oder Kultureinrichtungen. Die Jobs sind in diesem Frühjahr reihenweise weggefallen. Etwa einem Drittel der Studierenden, so zeigen Umfragen an einzelnen Unis, ging Einkommen durch Jobabsagen oder Kündigung verloren. "Ab Mitte März kamen die Corona-Fragen", erzählt Jan Lübbe: "Ob man Grundsicherung beantragen kann – geht eventuell nur bei Teilzeitstudium –, Fragen nach Wohngeld oder ob jemandem nicht doch Kurzarbeitergeld zusteht. Einer Kommilitonin, die das bei einer großen Kaffeehaus-Kette nur angesprochen hatte, wurde umgehend gekündigt."

Auch an Nachfragen zu Soforthilfen erinnert sich der Berater. Er studiert selbst Ingenieurwissenschaften an der TU Berlin, hilft aber auch in der vom DGB getragenen arbeits- und sozialrechtlichen Beratung "Students@Work". Auf wirk- same staatliche Unterstützung warteten die Studierenden vergebens, sagt Charlotte. Die meisten hielten sich mit einem "Flickenteppich" verschiedener Hilfen über Wasser, oder Eltern und Verwandte geben Geld. An einzelnen Unis springen auch spendenbasierte Fonds ein.

Lösungen fehlen

Weder Grundsicherung, Kurzarbeitergeld noch andere Transferleistungen greifen für Studierende. Rasche Überbrückung versprach Bundesministerin Anja Karliczek, CDU, dennoch. Tatsächlich verwies sie Millionen Studierende auf einen Ladenhüter, den "langbewährten KFW-Studienkredit". Er wird nun einige Monate zinslos gestellt, muss aber ansonsten komplett zurückgezahlt werden. Bis zu 650 Euro im Monat bringt er. Das reicht kaum. Viele Student*innen sehen ihn vor allem als Schuldenfalle, manche sprechen von Nötigung. Seit dem 15. Mai sind fast 20.000 Anträge neu eingegangen, lediglich 8.000 seien in der Auszahlung, heißt es beim Ministerium auf Anfrage. Und das bei 2,9 Millionen Studierenden hierzulande.

Außer etwas Kosmetik am BAföG versprach Karliczek als "ambitioniertes Projekt" noch 100 Millionen Euro für einen Nothilfefonds der Studierendenwerke. "Ich kenne niemanden, der solches Geld schon bekommen hätte", sagt Charlotte Mitte Juli, als das Semester fast um ist. Erst ab 16. Juni konnten Studierende für je drei Monate maximal 500 Euro beantragen. Über 82.000 taten das sofort. Davon sei etwa die Hälfte "mit einem Volumen von 17,3 Millionen Euro positiv entschieden" worden. Im Juli kamen mehr als 60.000 Anträge hinzu, sagt das Ministerium. "Zu gering, zu spät, zu restriktiv, zu kurz und zu bürokratisch", kritisierte das Bündnis Solidarsemester den Nothilfefonds. Wer am Vortag der Beantragung mit seinem Konto im Minus ist, bekommt gar nichts, wer 100 oder 300 Euro hat, dem wird das Konto mit 400 oder 200 bis auf 500 Euro aufgestockt. Für jeden Monat muss Bedürftigkeit neu nachgewiesen werden, im August ist Schluss. "Gute Politik geht anders", kritisiert ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler und fordert "eine echte Lösung".

Änderung ist nicht in Sicht. Bestenfalls einen "Mix" von digitaler und Präsenzlehre planen viele Hochschulen ab Herbst. Auch der Arbeitsmarkt für Studierende wird sich nicht schnell erholen. Schon jetzt mussten Tausende ihre Lebensplanungen ändern. Wie viele über Studienabbruch nicht nur nachdenken, wird sich zeigen. Klar ist bereits, dass zum Wintersemester weniger ausländische Student*innen an hiesige Unis streben. Die Gefahr wächst, dass deutsche Hochschulbildung insgesamt leidet. Und dass sie nur noch denen zugänglich ist, die sie sich leisten können. Das müssten am Ende alle ausbaden. "Unsere Forderungen bleiben also aktuell", ist Charlotte überzeugt.

Mehr erfahren:

kurzelinks.de/fexr (Infos vom Fachbereich Bildung, Wissenschaft und Forschung)

jugend.dgb.de/studium/beratung

students-at-work

solidarsemester.de

bafoeg-rechner.de