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Rund 750 Studierende der Technischen Universität Dortmund schreiben ihre Prüfungsarbeiten – wegen Corona und dem Abstandsgebot erstmals in der WestfalenhalleFoto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

Kinder aus sozial benachteiligten Familien haben in Deutschland erheblich schlechtere Bildungschancen als der Nachwuchs von finanziell Bessergestellten. Sie werden hierzulande auf diesem für ihr weiteres Leben zentralen Feld stärker diskriminiert als in fast allen übrigen entwickelten Industriestaaten, wie der internationale Schulleistungsvergleich PISA immer wieder ergibt. Seit dem "PISA-Schock", der aber nicht etwa durch diese Bestätigung der Diskriminierung von Armen im hiesigen Bildungssystem, sondern durch das schlechte Abschneiden "unserer" Schüler*innen ausgelöst wurde, spielt Bildung eine Schlüsselrolle.

Armut und soziale Benachteiligung führt man in den Massenmedien überwiegend auf die "Bildungsferne" der Betroffenen zurück. Zweifellos verhindern Bildungsdefizite vielfach, dass junge Menschen auf einem flexibilisierten Arbeitsmarkt sofort Fuß fassen. Auch führt die Armut von Familien häufig dazu, dass deren Kinder keine weiterführende Schule besuchen oder sie ohne Abschluss wieder verlassen. Armut in der Herkunftsfamilie zieht bereits in der Sekundarstufe oftmals dauerhafte Bildungsdefizite der betroffenen Kinder nach sich.

Der umgekehrte Effekt ist hingegen kaum spürbar: Ein schlechter oder fehlender Schulabschluss verringert zwar die Erwerbschancen und erhöht das Erwerbslosigkeitsrisiko, wirkt sich aber kaum nachteilig auf den Wohlstand einer Person aus, wenn diese vermögend ist oder Kapital besitzt.

Ursache und Wirkung vertauscht

Der weit verbreitete Terminus "Bildungsarmut" ist missverständlich, weil er Ursache und Wirkung vertauscht. Menschen sind nämlich selten arm, weil es ihnen an Bildung fehlt; häufiger fehlt es ihnen an Bildung, weil sie arm sind. Zwischen dem Bildungsgrad und dem Wohlstand einer Person besteht in unserem Land kein unmittelbarer Zusammenhang: Man kann steinreich und strohdumm, aber auch geistreich und bettelarm sein.

Wird so getan, als führten hauptsächlich mangelnde Bildungsanstrengungen zu materieller Armut, fällt ausgerechnet den Betroffenen im Sinne eines individuellen Versagens (ihrer Eltern) die Verantwortung dafür zu, während die strukturellen Hintergründe des Problems aus dem Blick geraten. Bildungsbeteiligung für die einen und Bildungsbenachteiligung für die anderen Kinder ergeben sich jedoch aus den sozioökonomischen Verhältnissen.

Armut verhindert Bildung. Umgekehrt gilt diese Feststellung keineswegs un- eingeschränkt: Selbst ein Hochschulabschluss schützt längst nicht mehr vor Armut. Das beweist die Existenz obdachloser Akademiker ebenso wie die relativ hohe Anzahl erwerbsloser, prekär beschäftigter und mittelloser Wissenschaftler*innen. Kinder aus sozial benachteiligten Familien gehören heute zwar zu den größten Bildungsverlierern, ihre Armut basiert jedoch selten auf falschen oder fehlenden Schulabschlüssen, denn die Letzteren sind höchstens Auslöser und Verstärker, aber nicht Verursacher materieller Not. Bildungsdefizite führen allerdings oft zu einer Verfestigung der Armut, weil die Chancen eines Menschen auf dem Arbeitsmarkt heute immer stärker an Kompetenzen gebunden sind, die man an (Hoch-)Schulen erwirbt.

Politikerreden, Wahlprogramme und Diskussionspapiere der etablierten Parteien verheißen sozial Benachteiligten den "Aufstieg durch Bildung" und sehen in Letzterer den Schlüssel für beruflichen Erfolg, privaten Wohlstand und volkswirtschaftliches Wachstum. Angeblich ermöglichen Bildungsanstrengungen einem jedem und einer jeden einen sozialen Aufstieg. Demnach wären Armut und soziale Ungleichheit wegen der allgemeinen Schulpflicht ein individuelles und kein strukturelles Problem.

Bolzplatz oder Ballettschule

Unbestritten ist, dass man aufgrund der erfolgreichen Bewältigung von (Aus-) Bildungsprozessen unter günstigen Umständen einer prekären Lebenslage entkommen und beruflich Karriere machen kann. Bildungserfolge einzelner Personen sind aber keine gesamtgesellschaftliche Lösung für das Problem der Armut und sozialen Ausgrenzung. In einer Marktgesellschaft, wo das Geld so wichtig ist wie noch nie und so ungleich verteilt ist wie noch nie, entscheidet nicht zuletzt das Portemonnaie über die Bildungschancen der Menschen. Ob ein Kind nach dem Schulunterricht auf den Bolzplatz oder in die Ballettschule geht, hängt keineswegs bloß von seinem Geschlecht, sondern wohl stärker noch vom Einkommen und vom sozialen Status seiner Eltern ab. Kinder reicher Eltern sind eindeutig im Vorteil, weshalb man in Abwandlung eines deutschen Sprichwortes sagen kann: Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg, sei es zum Abitur, zum Studium und/oder zur beruf- lichen Karriere.

So wichtig eine gute Bildung für alle ist: Sie versagt als soziale Gleichmacherin ebenso wie als Mittel gegen die Armut. Dies gilt für Deutschland aufgrund seines mehrgliedrigen Sekundarschulwesens noch mehr als für andere entwickelte Industriestaaten. Wären alle Kinder und Jugendlichen besser gebildet, was ihnen sehr zu wünschen ist, würden sie womöglich nur auf einem höheren Bildungsniveau um die wenigen Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze konkurrieren. Es gäbe zwar am Ende mehr Taxifahrer mit Hochschulabschluss und mehr Putzhilfen mit Abitur, aber weiterhin Armut und soziale Ungleichheit.

Durch die Fixierung auf Bildung wird von der Notwendigkeit abgelenkt, Maßnahmen der Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen zu ergreifen. Wahrscheinlich kann die Neuentstehung sozioökonomischer Ungleichheit nur durch eine grundlegende Veränderung des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems verhindert werden.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. Zuletzt ist sein Buch "Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland" erschienen.

Spezial:

Bildung für alle

Das zurückliegende halbe Jahr hat gezeigt, welch' hohes Gut Bildung ist. Studierende konnten nicht mehr an ihre Hochschulen, Schüler*innen nicht mehr in ihre Schulen. Längst haben Untersuchungen ergeben, dass vor allem letztere alles Mögliche getan haben in den Monaten des Bildungs-Lockdowns, nur eines nicht: Sie haben kaum etwas gelernt. Viele Kinder wurden abgehängt, weil ihnen die technische Ausstattung fehlte, um an digitalen Schulangeboten teilhaben zu können. Und die anderen haben auch nur das Allernötigste für die Schule getan, die nicht mehr existent war. Kurzum: Bildung braucht Orte, Investitionen. Oder "Reiche Eltern für alle", wie die Studis fordern. Petra Welzel