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Hannover im Frühsommer: Protest von TUI-Beschäftigten zur Rettung der Reisebüros in DeutschlandFoto: Marvin Ibo Güngör/GES/augenklick

Der zurückliegende Sommer wird Geschichte schreiben. Nicht, weil es ein Jahrhundertsommer gewesen wäre. Das Wetter war eher durchwachsen. An machen Orten zu heiß, an anderen zu nass. Das Wetter kann man sich eben nicht aussuchen. Das Reiseziel hingegen im Prinzip schon. Es ist unter anderem von der verfügbaren Zeit und dem Geld auf dem Konto oder Sparbuch abhängig. Doch nachdem schon zu den Osterferien weltweit nahezu alle Grenzen dichtgemacht worden waren und Reisen storniert werden mussten, hielten sich die Reiseströme trotz wieder geöffneter Grenzen auch im Sommer noch in Grenzen. Und die Sommerferien waren noch nicht einmal zu Ende, als erneut zahlreiche Reisewarnungen ausgesprochen wurden.

Das alles wäre nicht weiter schlimm. Dem einen oder der anderen blieb das Heimweh erspart, alle anderen Reisehungrigen werden ihr Fernweh überleben. Ohnehin konkurriert es derzeit immer noch mit einem bösartigen Virus. Seit Monaten schmerzhaft allerdings ist die Situation für die weltweit hunderte Millionen Beschäftigten im Tourismus. Allein in Deutschland haben laut Statistischem Bundesamt rund 3 Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz in der Branche. Nimmt man Bäckereien, die Gaststätten beliefern, Handwerksbetriebe, die Renovierungsarbeiten in Hotels übernehmen, und Dienstleistungen durch Geschäfte an Flughäfen hinzu, sind es noch einmal 1,25 Millionen Beschäftigte mehr.

Blickt man auf Europa, sind es 23 Millionen Menschen, deren Arbeitsplätze nach Angaben der EU-Kommission direkt oder indirekt vom Tourismus abhängen. Das sind 12 Prozent aller Erwerbstätigen in Europa. Und betroffen sind viele jungen Menschen. 37 Prozent der Beschäftigten im Tourismus sind jünger als 35 Jahre.

Mehr Frauen betroffen

Bedroht sind in Deutschland momentan eine Million Arbeitsplätze im Tourismus. In Europa spricht die EU-Kommission von insgesamt 6 Millionen Arbeitsplätzen. Im Vergleich zu den Vorjahreszeiträumen sind die Reisebuchungen in Europa um 60 bis 90 Prozent zurückgegangen. Die Weltourismusorganisation (UNWtO) prognostiziert aufs ganze Jahr 2020 weltweit einen Rückgang der internationalen Reisenden um 60 Prozent und somit einen Verlust von 840 bis 1.000 Milliarden Euro für die globale Reiseindustrie.

Das sind Zahlen, bei denen einem wie beim Überqueren einer Hängebrücke in den Bergen leicht schwindelig werden kann. Und Angst und Bange wie vor einem Bungee-Sprung. Denn hinter all diesen Zahlen stecken einzelne Menschen und – wieder einmal – überwiegend Frauen. Nach Angaben der UNWTO besteht der Tourismussektor zu mehr als der Hälfte aus Frauen. In einer Videobotschaft Ende August sprach UN-Generalsekretär António Guterres von weltweit rund 120 Millionen bedrohten Arbeitsplätzen im Tourismus. Verheerend sei das umso mehr, als die meisten Tourismus-Betriebe kleine und mittlere Unternehmen seien, sagte Sandra Carvao von der UNWTO in einer Videokonferenz hinsichtlich der drohenden Arbeitsplatzverluste. "Frauen, junge Menschen und informelle Arbeiter sind besonders bedroht", so Carvao.

Aufschrei aus der Branche

In der taz wurde am 1. Juli ein anonymer Leserbrief veröffentlicht von einem oder einer Beschäftigten eines Reisebüros, also einer unmittelbar betroffenen Person, der überschrieben war mit den Worten: "Es ist die Hölle los!" Und das war nicht dem Ansturm auf das Reisebüro geschuldet, sondern vielmehr den Rettungsmilliarden, die die Bundesregierung an die großen Konzerne wie TUI oder die Lufthansa ausschüttete. "Ich arbeite in einem Geschäftsreisebüro. Wir buchen nicht nur Manager, wir buchen auch die Monteure, Seeleute auf Schiffen oder Ölplattformen, wir buchen Polizei, Umweltschützer und Schülergruppen. Wir buchen alles, was notwendig ist, damit es in der Wirtschaft läuft. Und wie sich herausgestellt hat, tun wir das so still und leise, dass es kaum jemand bemerkt", heißt es in dem Leserbrief, und: "Aber wer kümmert sich denn um all die Probleme, die bei einem Vulkan- oder Virusausbruch auftauchen? Wir können minutenschnell umbuchen, ob sich der Kunde in Indonesien oder in Washington am Flughafen befindet. Das können nur die Reisebüros! Lufthansa und TUI sanieren sich mit den Milliardenhilfen gesund, entlassen Mitarbeiter und werden auch noch ganz elegant die Reisebüros los, an die sie nämlich Provisionen zahlen müssen, wenn über sie gebucht wird."

"Die Großen werden hofiert"

Weiter ist von ersten Selbstmorden in der Branche die Rede und dass nur wenige Reisebüros überleben werden. Und davon, dass es auch für den Tourismus eine Art Bundesnetzagentur geben müsse wie für die Energiewirtschaft, die überprüfe, was TUI und Lufthansa mit den Milliarden Hilfsgeldern eigentlich machen. Es ist ein Aufschrei aus der Branche, die dafür sorgt, dass Reisen und Urlaube gelingen: "Die ganz Großen werden hofiert, unterstützt und gebauchpinselt, und die Kleinen werden plattgemacht. Es ist zum Verzweifeln!"

Tatsächlich ist die Situation im Tourismus für viele Beschäftigte eine Katastrophe, von der sie sich nicht haben vorstellen können, dass sie eintritt. Zehn Jahre lang ist die Branche kontinuierlich gewachsen. Jetzt musste sie notlanden, und ein Drittel wird möglicherweise nicht überleben. Der Frankfurter Flughafen, Deutschlands größtes Drehkreuz für internationale Flüge, musste im August vermelden, weiterhin rund 75 Prozent weniger Passagiere gehabt zu haben als im Vorjahr um diese Zeit.

Ja, für viele ist die Lage zum Verzweifeln. Doch niemand bezweifelt, auch unter den Beschäftigten nicht, dass die Menschen nach der Corona-Pandemie wieder reisen werden. Nur wohin die Reisen dann gehen – das vermag noch niemand zu sagen.

Spezial: Abenteuer in der Hölle

"Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen", schrieb im 18. Jahrhundert der deutsche Dichter Matthias Claudius. Damals, als jede Reise noch ein Abenteuer war und niemand live mit dem Smartphone die Welt über seinen Urlaub auf dem Laufenden halten konnte. Von Letzterem profitieren schon lange Orte, Hotels, Restaurants und vieles mehr, was eine Reise braucht. Kaum eine andere Branche ist in den vergangenen Jahren so gewachsen wie der Tourismus. Und kaum eine so eingebrochen wie sie durch Corona. Derzeit zu reisen, ist wieder abenteuerlich. Die Reisenden haben einiges zu erzählen, vor allem auch die Beschäftigten der Branche. Sie können tatsächlich von der Hölle berichten. Petra Welzel