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Die jetzt geplante untere Haltelinie, vom EGB auch Anstandsgrenze genannt, wird in jedem Land unterschiedlich hoch seinFoto: Geisler Fotopress/picture alliance

Derzeit beraten die politischen Gremien in Deutschland darüber, den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland auf 12 Euro pro Stunde anzuheben. Bis die Lohnuntergrenze 2015 eingeführt wurde, war Deutschland eins der wenigen Länder in Europa, in denen es noch keinen allgemeinen, gesetzlichen Mindestlohn gab. Ein Nachzügler also. Mit der geplanten Erhöhung von derzeit 9,82 Euro pro Stunde über 10,45 Euro ab 1. Juli auf 12 Euro ab 1. Oktober würde Deutschland im europäischen Vergleich einen Sprung an die Spitze machen.

Mehr gezahlt würde dann nur in Luxemburg mit aktuell 13,05 Euro pro Stunde. Auf EU-Ebene wird derzeit über einen europäischen Mindestlohn diskutiert. Das ist schon seit vielen Jahren eine Forderung des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB) und vieler seiner Mitgliedsgewerkschaften. Aber jetzt hat auch die EU-Kommission ihre Haltung dazu deutlich verändert.

Sie hat das Ziel ausgerufen, dass alle Menschen in der EU von ihrem Lohn angemessen leben können müssen – sei es durch einen gesetzlichen Mindestlohn oder durch Tariflöhne. Denn EU-Länder wie Österreich, Italien, Finnland oder Schweden regeln die Lohnuntergrenzen weitgehend über branchenspezifische Tarifverträge, die dann – zumindest in den drei erstgenannten Ländern – für allgemeinverbindlich erklärt werden und damit für alle gelten, die in der Branche arbeiten.

Auch die französische Regierung, die noch bis Ende Juni die EU-Ratspräsidentschaft innehat – macht sich dafür stark, dass die Beratungen über diese europäische Lohnuntergrenze zum Abschluss kommen. Sozialpartnerschaftliche Konsultationen dazu hatten bereits 2020 begonnen, im November vergangenen Jahres verständigte sich das Europäische Parlament auf eine Position.

Friederike Posselt, Referentin Tarifkoordination beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), weist darauf hin, dass es laut EU-Vertrag nicht zulässig ist, dass die EU Mindestlöhne festlegt. Deren Höhe müssen die einzelnen Mitgliedsstaaten in Eigenregie regeln. Daher wird die jetzt geplante untere Haltelinie, vom EGB auch Anstandsgrenze genannt, in jedem Land unterschiedlich hoch sein und sich so unter anderem an den Einkommen und der Kaufkraft der jeweiligen Länder orientieren. Wie groß die Unterschiede sind, zeigt sich schon bei einem Blick auf eine aktuelle Aufstellung: Während Luxemburg, Niederlande, Frankreich, Irland, Belgien und ab Juli auch Deutschland bei Stundenmindestlöhnen von mehr als 10 Euro liegen, stehen am unteren Ende Ungarn, Rumänien, Lettland und Bulgarien mit weniger als 3,30 Euro pro Stunde.

Um eine einheitliche Bewertung vornehmen zu können, haben sich die EU-Parlamentarier*innen auf zwei konkrete Werte zur Bemessung verständigt. Die Lohnuntergrenze soll nicht unter 60 Prozent des Medianlohns und nicht unter 50 Prozent des Durchschnittslohns der jeweiligen Länder liegen. Was bedeutet das? Der Medianlohn ist das Einkommen, das genau die Mitte aller im Land bezogenen Einkommen bildet. Der Durchschnittslohn sind die Einkommen, die in einem Land verdient werden, geteilt durch die Anzahl der Bezieher*innen. Letzteres ist, erklärt Friederike Posselt, gerade in Ländern mit einer hohen Lohnspreizung gerechter. Zudem hat sich das Europäische Parlament darauf verständigt, dass die Kontrollen zur Einhaltung des Mindestlohns verstärkt werden sollen. Und die Tarifbindung soll durch Aktionspläne und konkrete Maßnahmen auf 80 Prozent erhöht werden. Die EU-Kommission hatte 70 Prozent vorgeschlagen.

Der EGB hat den Prozess um einen europäischen Mindestlohn über die Jahre hinweg mit Lobbyarbeit begleitet. Sollte es noch bis zum Sommer zu einer Einigung in der EU kommen, wird auch hier ein Kompromiss stehen, sagt Anne Karrass vom EU-Verbindungsbüro von ver.di. Auch wenn der im ersten Schritt sichernicht alle Erwartungen der Gewerkschaften erfüllt, sieht sie darin aber einen wichtigen ersten Schritt zu auskömmlichen Löhnen für alle in Europa. Damit würde Europa dann wieder ein Stück sozialer.