Die Erwerbslosenbewegung der Piqueteros ist auf pragmatischem Kurs

Irgendwann bleibt der uralte Dodge in der aufgeweichten Straße stecken. Die letzten Meter zu den beiden neuen Häuschen am Ortsrand von Florencio Varela legen wir zu Fuß zurück. Stolz zeigen die Mitglieder der Baukooperative ihr jüngstes Werk. Nicht größer als eine deutsche Doppelgarage, aber mit allem ausgestattet, was eine Familie zum Schutz vor Wind und Kälte braucht: zwei Zimmer, Küche, Bad, Heizung. Luxus, verglichen mit den Hütten drum herum. Das Grundstück stellten die Bauherren, die Kosten für das Material übernahm der Staat, das Haus zogen zuvor arbeitslose Bauarbeiter hoch.

Überleben als Kartonsammler in Buenos Aires FOTO: LATINPHOTO.ORG

Die Fahrt von Buenos Aires nach Florencio Varela ist wie eine Fahrt von Europa nach Lateinamerika. Wo einst das Herz der argentinischen Wirtschaft schlug, beginnt heute die Dritte Welt. Eine Eisenbahnstunde vom quirligen Zentrum der Hauptstadt entfernt zeigen sich die Folgen von konsequenter Liberalisierung und Privatisierung: Arbeitslosigkeit, Hunger, menschenunwürdige Lebensbedingungen. Seit den 40er Jahren hatten sich im Vorstadtgürtel Industrien angesiedelt. Fabriken mit 1000 Beschäftigten waren keine Seltenheit. Heute stehen viele Hallen leer.

Volksküche zum Überleben

1997 blockierten Arbeitslose hier erstmals im Großraum Buenos Aires die Straße. Von Florencio Varela breitete sich der Protest der "Piqueteros" (Streikposten) weiter aus. Der ökonomische Kollaps im Winter 2001/2002 tat ein Übriges. "Unser vordringlichstes Problem war zunächst, das Überleben der Familien zu sichern", sagt Joaquin Torres von der örtliche Gruppe der Piquetero-Bewegung "Teresa Rodríguez" (MTR). Anfang 2002 besetzte die Gruppe eine leerstehende Fabrik. Heute sind dort Nähwerkstatt, Volksküche und Lebensmittellager untergebracht. "Auf den Außenflächen bauen wir Gemüse an", erzählt Torres. "Und eine Bäckerei ist geplant." Zum Sozialzentrum gehören mehrere Filialen. Dort haben die drei Baukooperativen der Gruppe ihre Materialien gelagert. Sie bauen Wohnungen und verlegen Wasserleitungen im Viertel. Einmal die Woche bietet die MTR-Gruppe in den Filialen medizinische Beratung an.

Arbeit und Demo

Florencio Varela gehört zu den prekärsten Wohngebieten Argentiniens. Am südlichen Rand des Industriegürtels gelegen, erweist sich die 380000 Einwohner zählende Stadt jenseits des kleinen Ortskerns als Ansammlung ärmlicher Häuser entlang unbefestigter Straßen. Ein Nährboden, auf dem Perspektivlosigkeit und Gewalt wachsen. Die örtliche Diözese stuft die Hälfte der Einwohner als arm oder extrem arm ein, jeder Dritte habe keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten, jeder Fünfte habe nicht genug Geld, um die notwendigen Lebensmittel zu kaufen. Zehntausende schlagen sich als Tagelöhner, Müllsammler und Straßenhändler durch.

Umso wichtiger zum Überleben sind selbstorganisierte Projekte. Nur über sie kommen Familien in den Genuss des "plan trabajar". Die Piqueteros haben diese Mischung aus Sozialhilfe und Arbeitsbeschaffungsmaßnahme der Regierung abgerungen. Nur wer in einer Gruppe mitmacht, erhält die 150 Pesos (40 Euro) pro Monat je Familie. Dafür müssen die Mitglieder vier Stunden täglich arbeiten. Versammlungen und Demonstrationen machen das Piquetero-Dasein schnell zum Vollzeitjob. Manche Mitglieder interessiert mehr die Versorgung mit Lebensmitteln als die Politik. Aus Sicht der politisch Aktiven ist das zu kurz gedacht. Sie sehen weiter. "Wir fordern nicht nur mehr Geld", sagt Joaquin Torres. "Wir versuchen, das zerstörte soziale Netz neu zu knüpfen. Dazu müssen die Menschen ihre wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rechte fordern."