Protokoll eines Abstiegs

Petra und Lothar Neuhaus waren eine gut situierte Mittelstandsfamilie. Bis Lothar Neuhaus einen jähen Karrierebruch erfuhr. Seit 2000 lebt die Familie nun von staatlicher Hilfe.

VON CLAUDIA VON ZGLINICKI (TEXT) UND VEIT METTE (FOTOS)

Ab 40 rief kein Headhunter mehr an, akkurat ab meinem Geburtstag.

Lothar, geboren 1950

Schon in den siebziger Jahren, nach meiner Schulzeit, waren meine ersten Erfahrungen mit dem Arbeitsamt auf der Suche nach Orientierungshilfe eher negativ. Auch damals waren private Netzwerke wichtig. Ein Verwandter meinte: Warum willst du nicht Ingenieur werden? Ja, warum nicht? Und so studierte ich Maschinenbau. Das nötige Praktikum organisierte mein Vater, der als Geschäftsmann seine Quellen anzapfen konnte.

Zuerst lief alles wie von selbst. Ich war im Februar ‘78 fertig, jung, frisch verheiratet, und es waren "goldene Zeiten". Die erste Stelle fand ich sofort, in einem amerikanischen Unternehmen in Mühlheim an der Ruhr. Wir sind dem Job hinterher gezogen. Ich fing in der Arbeitsvorbereitung an, organisierte die Abläufe, richtete - hinter dem Rücken des Betriebsrats - den ersten Computer im Betrieb ein. Damals hatte ich auch meinen ersten Kontakt zur Gewerkschaft. Die sagten mir: Wenn Sie dafür sorgen, dass hier Leute gehen müssen, dann sorgen wir dafür, dass Sie fliegen! Aber es musste niemand gehen, es waren, wie gesagt, goldene Zeiten.

Und der Preis für meinen Einsatz für Kinder und Familie? Keine Chance mehr im alten Beruf.

Mein Chef ebnete mir den Weg. Zehn Jahre war ich dort. Dann kamen die Headhunter-Zeiten. Häufige Anrufe, konspirative Treffen bei tollen Essen, so lief das. Ich habe mich abwerben lassen, zu einem französischen Konzern. Wieder ein Umzug, nördlich von Essen haben wir uns ein Haus gebaut. Dort haben wir die Einschulungen unserer beiden Söhne erlebt.

Das Leben reduziert sich auf das Notwendigste.

Aber bei den Franzosen blieb es nur ein Intermezzo. Schon nach einem Jahr wurde das Unternehmen verkauft, Grund war die "Marktbereinigung" im Zeichen der beginnenden Globalisierung. Das hätte auch mich den Job gekostet, aber meine alte Firma unterbreitete mir ein fettes Angebot. Ich habe nicht lange gezögert. Es lief noch vier Jahre für mich, doch allmählich wurde es unangenehm, weil Strategien und Management häufig und planlos wechselten. Es erschienen Amerikaner - breite Texaner, Füße auf dem Schreibtisch... Die stellten mein Projekt ein. Mein alter Förderer musste gehen und ich mit.

Zum ersten Mal arbeitslos, 1992. Schnitt, erster Schnitt.

Dass die goldenen Zeiten endgültig vorbei waren, wusste ich damals noch nicht. Aber die Einschläge kamen schnell immer näher. Ab 40 rief kein Headhunter mehr an, akkurat ab meinem Geburtstag. Zweiter Schnitt.

Doch ich fand wieder Arbeit, diesmal in einer Fliesenfabrik im Bonner Raum. Es war selbstverständlich für uns: Wenn man Arbeit findet, zieht man wieder um. Haben das Haus verkauft, waren den Kredit wieder los und zogen ins Rheinland. Mieteten ein Haus in den Weinbergen über dem Rhein. Wunderschön, obwohl das Erste, was wir vom Fluss sahen, Hochwasser war. In der Keramikfabrik blieb ich ein Jahr. Bis auch hier die Betriebswirtschaftler und Berater zum Zuge kamen, mit dem Resultat Neustrukturierung.

Wieder ein Schnitt. Also zum Arbeitsamt und die erste "Maßnahme". Die Vermittler waren damals noch nach Berufsfeldern organisiert, das funktionierte besser als jetzt, wo es bloß nach den Anfangsbuchstaben der Namen geht. Ich bekam meine erste Maßnahme gesponsert, eine Weiterbildung: Projektmanagement für Führungskräfte. Spielchen, Gruppengespräche, solches Zeug. Zum Glück konnte ich den Kurs eher verlassen, weil ich eine Stelle bekam, im Westerwald. Das hat mich unheimlich gefreut, ich hatte wieder einmal was aus eigener Kraft geschafft. Nichts wie weg aus dem Kurs!

Das Unternehmen war kleiner als alle vorher. Der Chef sagte: Herr Neuhaus, ich erwarte von Ihnen, dass Sie den Leuten vor die Kniescheibe treten und den Schreibtisch umkippen, wenn nötig! Das ging für mich nicht. Kollegen zur Sau machen, dazu Stress und Druck ohne Ende - das war nicht mein Ding. Es lief aber fast vier Jahre. Ich kann gar nicht mehr genau nachvollziehen, weshalb ich schließlich gehen musste. Unter diesen Arbeitsbedingungen tauchten zum ersten Mal Selbstzweifel auf: Lebst du noch in der richtigen Arbeitswelt?

Meine Vielseitigkeit war immer ein Plus. Ich frage mich: Ist das noch so? Suchen die Firmen heute nicht in Wirklichkeit Leute, die genau eine Sache routiniert machen und weiter nichts?

Seit 1. Januar 2000 bin ich "Langzeitarbeitsloser". Wieder ein Schnitt und damit ging das Dilemma los. 22 Monate habe ich in Weiterbildungen gesteckt, zwei Maßnahmen, damals noch vom Arbeitsamt. Mein Zertifikat als "Anwendungsberater" kann ich mir auf der Toilette an die Wand nageln. Du gehst damit zu einer Softwarefirma und denkst: Klasse! Dann sagen sie dir: Der Schein bringt nichts, du brauchst Berufserfahrung.

Bei der zweiten Maßnahme wusste ich sofort: Das ist nur Zeitvertreib. Aber vielleicht bringt es Kontakte. Doch man läuft der Realität mit ihren Anforderungen immer hinterher. In einem Praktikum hab ich Papiere kopiert, obwohl ich gerade aus einer Weiterbildung kam.

Jeder Einschnitt bedeutete weniger Geld. Mit dem Arbeitslosengeld ließ sich noch eigenverantwortlich leben. Ab 2004 gab's Arbeitslosenhilfe, das ging auch noch.

Petra

Ich brauche ihn, um mit ihm rauszugehen. Mit unserer vorigen Hündin bin ich stundenlang draußen rumgelaufen. Lothar und ich können schließlich nicht dauernd aufeinanderhocken.

Man baut alles ab, bis zum eigenen Taschengeld. Stoffreste für meine Patchworkarbeiten habe ich zum Glück noch auf Vorrat, dafür gebe ich kein Geld aus. Lothars Taschengeld liegt jetzt bei 30 Euro im Monat. Beim Bäcker verkaufen sie samstags ab 13 Uhr an der Hintertür Brot zum halben Preis. Da steht inzwischen immer eine Schlange, die darauf wartet.

Lothar

Dafür sind wir uns nicht mehr zu schade. Schlimmer ist: Das Leben steht still. Kulturelle Teilhabe? Geht nicht. Man kommt nicht mehr raus, das Leben wird reduziert auf die eigene Wohnung.

Petra

Wir wären gern zu einem Konzert in der Kirche gegangen. Eine Karte für zwölf Euro. Zu teuer. Vor einem Jahr ist die Waschmaschine kaputtgegangen. Die Reparatur hätten wir nicht bezahlen können, aber ich habe eine großartige Freundin. Und ich habe geheult, als sie mit ihrem Mann vor der Tür stand und uns eine nagelneue Waschmaschine hinstellte.

Lothar

Es ist ein schleichender Prozess: Nach jeder Gesetzesänderung geht es weiter runter. Das Leben reduziert sich auf das Notwendigste. Was bleibt, sind Freunde und neue Leute, die man kennen lernt. Aber manche ignorieren uns, als wäre Hartz IV ansteckend. Man kriegt zu hören: Wieso arbeitslos, Ingenieure werden doch gesucht? Arbeit liegt doch auf der Straße!

Ich war in einer Maßnahme für Leute über 50. Am Anfang wurde versprochen: Danach vermitteln wir jeden. Jetzt höre ich: Dass wir Sie nicht vermitteln können, verstehen wir gar nicht...

Die Initiative für Menschen über 50 wird als neu verkauft. Aber ich hab schon im Jahr 2000 bei einem Arbeitsvermittler gesessen, der sagte: Sie sind doch 50? Ich hab hier was, das nennt sich "50+"... Aber Sie, Herr Neuhaus, Sie können sich doch selbst kümmern. Den Satz habe ich oft gehört.

Viermal hab ich mich schon beim Jobcenter beworben, einmal für die Datenbankbetreuung, dreimal als Arbeitsberater. Nichts. Selbst hier zu alt? Ein Vermittler meinte: Werden Sie doch Lehrer am Berufskolleg, für Maschinenbau! Aber durch solche Ideen wirst du immer nur kurz hochgejubelt, dann funktioniert es nicht - und wieder ein Absturz.

Manche Menschen können über ihr Leben mit Hartz IV nicht sprechen. Ich rede.

Petra, geboren 1956

Das war noch menschlich.

Lothar

Seit dem 1. Januar 2005 bin ich auf Hartz IV. Arbeitslosengeld II. Der Abgrund.

Seitdem erleben wir einen Umbruch auf zwei Schienen. Einmal das Finanzielle, eine schnelle Fahrt nach unten. Zum anderen das Gesellschaftliche, wie ich es nenne. Vorher war ich selbst verantwortlich. Jetzt nimmt man mich an die Hand und gängelt mich. Ich habe mein Leben immer selbst gestaltet, ich war erfolgreich. Jetzt steht einer vor der Tür und kontrolliert uns. Das hätte ich mir nicht träumen lassen. Jetzt muss ich mir sagen lassen, dass ich schmarotze, dass ich eigentlich noch zu viel kriege.

Petra

Wir sind beide aus Hamm, sind Nachbarskinder.

Lothar

Ich komme aus einer Bäckerei. Mein Vater und mein Großvater haben wunderbares Brot gebacken. Ich habe nicht Bäcker gelernt, weil ich Brüder hatte, und es sich von selbst verstand, dass der Älteste die Bäckerei übernimmt. Das war ein Naturgesetz in unserer Familie. Und Lothar? Geht zum Gymnasium.

Petra

Meine Mutter ging putzen. Wir waren acht Kinder und als mein Vater starb, lebten fünf von uns noch zu Hause. Da war ich 15. Als ich 21 war, haben wir geheiratet. 1982 und 1986 wurden Sebastian und Philipp geboren. Ich bin Bankkauffrau, mein Traumberuf. Bis 1982 habe ich in einer Bank gearbeitet. Und der Preis für meinen Einsatz für Kinder und Familie? Keine Chance mehr im alten Beruf.

Als Philipp in die Grundschule kam, fing ich an zu jobben. Zuerst zwei Vormittage in der Woche, in einem Modeladen. Ich liebe Mode. Dann hab ich mal eine Vertretung in Lothars Firma gemacht, mich als arbeitsuchend gemeldet und in einem Kurs vom Arbeitsamt Buchhaltung gelernt, ein Jahr in einer Klinik am Empfang gearbeitet. Zuletzt war ich im vorigen Jahr ein paar Wochen in einer Zahnarztpraxis, auch am Empfang, für 400 Euro. Jetzt bin ich schon monatelang wieder zu Hause.

Irgendwann haben wir uns gesagt: Wir sind immer nur am Schimpfen; jetzt machen wir mal was! Da sind wir zur ersten Montagsdemo gegangen und seitdem dabeigeblieben. Ein harter Kern von Betroffenen und Interessierten trifft sich seitdem alle zwei Wochen, in einem Raum von ver.di. Von der Gewerkschaft kriegen wir auch den Baldachin für Infostände, Papier, Infomaterial, das hilft. Vor den Kommunalwahlen haben wir mit Politikern geredet. Wir diskutieren auch bei Ratssitzungen mit, ohne Hemmungen. Wir verstecken uns nicht. Öffentlichkeit suchen, das ist immens wichtig.

Lothar

Manche Menschen können über ihr Leben mit Hartz IV sprechen, andere nicht. Wie über Krebs. Ich rede. Wenn ich auch manchmal Verschleißerscheinungen spüre - aus den vier Wänden rauszukommen hilft mir. Aber ich bin nicht Michael Kohlhaas. Wir sind keine Querulanten. Wir informieren uns, was schwer genug ist, und versuchen, unser Recht durchzusetzen. Darum geht es.

Wohnen war für uns immer ein großes Stück Lebensqualität. Unsere Wohnung ist schön - und wird zum Problem. Schon im Februar 2005 haben wir Post bekommen: "Sie sind verpflichtet, sich unverzüglich um eine preisgünstigere Wohnung oder, falls das nicht möglich ist, um eine Untervermietung zu bemühen." Natürlich ist es nicht möglich. Und Untervermietung? Unser Ältester wird mit der Ausbildung fertig, ich habe gefragt: Kann ich an ihn untervermieten? Erst hieß es: Ja. Dann ging es doch nicht.

Weil es immer heißt: Hartz IV-Empfänger kriegen die Miete bezahlt, hat unser Vermieter die Miete erhöht. Jede Änderung der Lebensverhältnisse zwingt uns, wieder ins Jobcenter zu gehen, und jedes Mal wiehert der Amtsschimmel. Ich hab mittlerweile so viele Bescheide, das versteht kein Mensch mehr. Im Moment heißt es hier, 505 Euro Miete (einschließlich Nebenkosten) sind für vier Personen angemessen. Plus ein Euro und zwei Cent pro Quadratmeter für die Heizung. Was teurer ist, wird vom Regelsatz zum Leben genommen.

Petra

Vom Arbeitslosengeld II bleibt kein Cent übrig. Das Erste, worauf ich verzichtet habe, war das Heft der Patchworkgilde, das ich einmal im Vierteljahr bekam. Patchwork ist meine Leidenschaft, aber das Blatt kostet 33 Euro im Jahr. Dann wurde die Tageszeitung gekündigt. Macht 21 Euro im Monat.

Lothar

Aber ich bin, ehrlich gesagt, informationsgeil. Wir kaufen die Zeitung mittwochs und samstags, schon wegen der Wohnungsanzeigen. Von Fernseh- und Rundfunkgebühren sind wir befreit, das wundert mich immer noch. Denn alles, was früher zusätzlich zur Sozialhilfe geleistet wurde, ist gestrichen.

Man sucht überall, wo man mit weniger auskommen kann. In der Stadtbücherei bezahle ich nur sechs statt zehn Euro. Nach und nach haben wir die Versicherungen runtergefahren. Die Hundesteuer ist für Arbeitslose halbiert, zum Glück. Das muss man aber erstmal herausfinden. Kein Behördenmensch sagt einem das von sich aus. Aber natürlich denken manche Leute: Die brauchen doch keinen Hund.

Es tauchen zum ersten Mal Selbstzweifel auf: Lebst Du noch in derrichtigen Arbeitswelt?

Der Zauber der Statistik

"Es stimmt, drei Millionen Erwerbslose sind besser als vier. Aber immer noch zu viele. Und die Statistik ist nicht der Wahrheit letzter Schluss. Viele Arbeitslose werden nicht mitgezählt, zum Beispiel Hausfrauen, die gern arbeiten würden, sich aber gar nicht erst als arbeitsuchend melden, und die zurzeit rund 250000 Ein-Euro-Jobber. Nur 37 Millionen Menschen waren im Februar sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Von denen sind wiederum viele unterbeschäftigt; sie würden gern mehr machen als nur ihren Mini-Job." Bernhard Jirku

in der ver.di-Bundesverwaltung zuständig für die Erwerbslosenarbeit

Informationen unter www.verdi.de/erwerbslose, www.verdi-erwerbslosenberatung.de