In sozialen Berufen des Gesundheitswesens leiden Arbeitnehmer oft unter Erschöpfungszuständen. Menschen mit hohem Idealismus sind überdurchschnittlich oft betroffen

Von Sabine Damaschke

Hohes Arbeitstempo, wenig Pausen, große Verantwortung

Es gab Tage, da hat Julia Kleve (Name geändert) ihren eigenen Puls gemessen. Dann erschrak sie, atmete tief durch und dachte an Kündigung. Doch Julia machte weiter, eilte zwischen den acht Betten der Intensivstation einer Hagener Klinik hin und her, holte Medikamente, legte Blasenkatheter und nahm Blut ab. "Oft war der Stress so groß, dass ich während meiner Schicht bewusst nichts gegessen und getrunken habe", erzählt sie. "Denn jeder Toilettengang kostete Zeit, die ich nicht hatte."

Auf das hohe Arbeitstempo, fehlende Pausen, 170 Überstunden innerhalb eines Jahres und den ständigen Wechsel zwischen Früh-, Spät- und Nachtschichten reagierte die 40-jährige Krankenschwester mit Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Erschöpfungszuständen. "Ich fühlte mich total ausgebrannt", sagt sie. Den Kolleginnen ging es wohl ähnlich: Der Krankenstand unter den 18 Stationsmitarbeitern liegt seit Monaten bei 38 Prozent. "Viele leiden unter Burnout", meint Julia. "Aber das gibt niemand gerne zu."

Studien der Krankenkassen und der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) in Hamburg bestätigen, dass die psychischen Erkrankungen unter den Pflegekräften zugenommen haben. Laut AOK-Fehlzeitenreport werden sie um 62 Prozent häufiger wegen einer psychischen Erkrankung arbeitsunfähig geschrieben als sonstige Versicherte. "Dennoch ist Burnout in der Pflege kaum ein Thema", berichtet Michael Musall, Fachsekretär für Altenpflege bei ver.di in Berlin.

Die meisten Beschäftigten fühlten sich verantwortlich "bis zur Selbstaufgabe". Musall beobachtet einen hohen Gruppendruck in den Kliniken und Pflegediensten; hinzu kommt die gestiegene Arbeitsbelastung durch Personalabbau und zusätzliche Dokumentationspflichten.

Laut BGW-Gesundheitsreport 2005 denkt jede vierte Krankenpflegekraft zwischen 30 und 39 Jahren, die auf einer Station arbeitet, oft darüber nach, sich von der Pflege zu verabschieden. Doch Alternativen auf dem Arbeitsmarkt zu finden, ist schwierig. "Au- ßerdem habe ich diesen Beruf bewusst gewählt, weil ich anderen Menschen helfen wollte", erzählt Julia Kleve. Sie will auf jeden Fall im sozialen Bereich tätig bleiben.

Sie harren aus und werden immer labiler

In diesem Dilemma stecken viele Arbeitnehmer/innen aus sozialen Berufen. Sie harren auf ihren Arbeitsplätzen aus und werden psychisch immer labiler. Laut einer Umfrage der Freiburger Forschungsstelle für Arbeits- und Sozialmedizin unter 5000 Beschäf- tigten verschiedener Branchen fühlen sich die Pflegekräfte nach den Lehrern und Ärzten am stärksten ausgebrannt.

"Besonders betroffen sind Menschen, die mit einem hohen Idealismus und Anspruch an sich selbst in ihrem Beruf tätig sind", erläutert Bernd Sprenger, Chefarzt der Oberbergklinik in Wendisch-Rietz bei Berlin, die sich auf Burnout, Depressionen und Abhängigkeitserkrankungen spezialisiert hat. Dabei verläuft Burnout laut Sprenger meist in vier Phasen. Am Anfang stehe oft Hyperaktivität, darauf folge Überdruss und der Verlust von Idealismus. Es komme zu psychosomatischen Reaktionen, die schließlich in Depressionen und Selbstmordabsichten enden könnten.

Aus der ständigen Überforderung herauszufinden, sei nicht einfach, betont der 53-jährige Chefarzt. Die Therapie dauert in seiner Klinik mindestens vier bis sechs Wochen. "Viele Patienten kennen ihre eigenen Bedürfnisse überhaupt nicht mehr." In kleinen Schritten übt der Chefarzt mit ihnen, persönliche Leistungsgrenzen zu finden und zu akzeptieren. "98 Prozent der Patienten erkennen dabei, dass nicht nur der Chef, sondern sie selbst sich viel Druck machen." In jedem Fall sei es wichtig, im Betrieb ein Gespräch über die Erwartungen an die Arbeitsleistung zu führen.

Beschwerden verhallen

Daran aber mangelt es laut BGW-Gesundheitsreport. Nur 16 Prozent der Beschäftigten in der stationären Krankenpflege haben den Eindruck, dass ihre Beschwerden bei den Vorgesetzten berücksichtigt werden. Weil Julia Kleves Bitte um eine andere Organisation der Schichtdienste auf taube Ohren stieß, hat sie nach neun Jahren als Intensivschwester gekündigt. Sie arbeitet jetzt bei einem Hospizverein. "Da habe ich endlich Zeit für die Patienten - und für Pausen."

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