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Große Demonstration in Brüssel im Mai 2023 gegen SozialdumpingFoto: Yves Herman/Reuters

ver.di publik: An wie vielen Sozialen Dialogen ist der EGÖD beteiligt?

Goudriaan: Es gibt die europäischen Sozialen Dialoge auf sektorübergreifender Ebene, da ist der EGÖD Mitglied von Delegationen des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB). Aber es gibt sie auch für einzelne Branchen. Da ist der EGÖD derzeit an fünf Sozialen Dialogen beteiligt: Strom, Kommunen, Gaswirtschaft, Krankenhäuser, öffentlicher Dienst des Bundes. Neu dazu kommt der im Sozialdienstleistungsbereich. Ihm hat die Europäische Kommission erst im Juli zugestimmt.

Wer sitzt euch dort gegenüber?

Die Arbeitgeber im Bereich sozialer Dienstleistungen sind meistens in der Alten- oder Behindertenpflege tätig. Neben privaten Arbeitgebern und Wohlfahrtsverbänden sind auch kommunale Arbeitgeber vertreten, weil in Deutschland oder den nordischen Ländern auch die Kommunen für soziale Dienstleistungen verantwortlich sind. Auf Gewerkschaftsseite deckt der EGÖD sowohl die kommunalen und privaten Arbeitgeber als auch die der Wohlfahrtsverbände ab. ver.di hat sich ziemlich aktiv an der Vorbereitung dieses Sozialen Dialogs beteiligt.

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Jan Willem Goudriaan ist Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsverbands für den öffent- lichen Dienst (EGÖD)Foto: Kay Herschelmann

Warum ist es schwierig, die Arbeitgeber von einem Sozialen Dialog zu überzeugen?

Es gibt sehr wenig Druck auf nationale Arbeitgeberverbände, sich auf europäischer Ebene zusammenzuschließen. Das ist Überzeugungsarbeit. Wir Gewerkschaften haben eher erkannt, dass die Sozialen Dialoge eine Möglichkeit sind, um gemeinsam Einfluss auf die europäische Politik zu nehmen und die Situation für die Beschäftigten zu verbessern.

Was könnt ihr bewegen?

Das hängt vom Bereich ab. Bei den sozialen Dienstleistungen haben wir uns mit den Arbeitgebern darauf verständigen können, dass wir gute Pflege wollen. Und für gute Pflege ist wichtig, dass man Menschen mit guten Qualifikationen hat, gute Arbeitsbedingungen, Tarifbindung und auch genügend Fachkräfte. Pflege ist allerdings auch ein Bereich, auf den die Politik auf europäischer Ebene Einfluss nehmen kann. Das Europäische Parlament muss zu einer Strategie für die Langzeitpflege kommen. Wir sind gut positioniert, um darauf Einfluss zu nehmen.

Was können die Gewerkschaften konkret erreichen?

Das Wichtigste ist die Möglichkeit, mit den europäischen Arbeitgebern europäische Tarifvereinbarungen auszuhandeln und abzuschließen. Dann kann die Europäische Kommission sie durch Gesetzgebung für allgemeinverbindlich erklären. Häufigstes Ergebnis der Arbeit in Sozialen Dialogen sind Richtlinien über Arbeitsschutz, und das gilt in allen Bereichen. Im Bereich Krankenhaus gibt es zum Beispiel die sogenannte Nadelstichrichtlinie zum Umgang mit scharfen und spitzen Gegenständen am Arbeitsplatz. Sie wurde mit einer europäischen Vereinbarung zwischen EGÖD und der Arbeitgeberorganisation der Krankenhäuser umgesetzt. Mit den Arbeitgebern aus der Gasbranche verhandeln wir derzeit eine Vereinbarung über gerechte Transition. Richtlinien zu befristeten Arbeitsverträgen oder Teilzeitarbeit basieren auf Vereinbarungen zwischen europäischen Arbeitgebern und Gewerkschaften.

Es gibt auch die Möglichkeit, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber autonome Vereinbarungen absprechen. Auch hier ein Beispiel aus dem Krankenhaussektor: Die Anwerbung von Menschen aus anderen Ländern. Sie sind allerdings nicht allgemeinverbindlich, sondern müssen durch Arbeitgeber und Gewerkschaften auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Ein anderes Beispiel dafür ist Gewalt am Arbeitsplatz. Dazu gibt es ja in Deutschland eine Kampagne des DGB. Wir haben dazu eine Art Leitlinie mit Arbeitgeberorganisationen in verschiedenen Branchen vereinbart. Darin steht, was man tun kann, was man tun muss. Das muss auch national umgesetzt werden.

Sozialer Dialog hört sich nach langen, zähen Abstimmungsprozessen an

Ich würde nicht sagen, dass das zäh ist. Bei den Sitzungen sind häufig externe Gäste aus der Wissenschaft eingeladen, die unsere Positionen durch wissenschaftliche Expertise untermauern oder uns und den Arbeitgebern Fakten liefern, damit wir das Thema gegenüber der Europäischen Kommission transportieren können. Wir arbeiten mit Leuten aus verschiedenen Ländern zusammen, um etwas durchzusetzen – erst mit den Arbeit- gebern, dann mit Politikern, um in Sachen europäische Politik Einfluss zu nehmen. Das ist spannend. Und wenn es klappt, ist das natürlich ein großer Gewinn für den Sozialen Dialog, für die Gewerkschaften.

Wenn sich Arbeitgeber und Gewerkschaften in einem Sozialen Dialog auf eine Vereinbarung auf europäischer Ebene verständigt haben, muss die Kommission sie dann umsetzen?

Sie kann das tun, muss es aber nicht. In dem Moment, in dem die Sozialpartner der Kommission eine Vereinbarung vorlegen, geht die Verantwortung an die Kommission über. Sie kann entscheiden, was sie damit macht und muss die Entscheidung nicht begründen. Dieses Vorgehen hat der Europäische Gerichtshof gerade leider bestätigt. Hier brauchen wir mehr Transparenz.

Wie schwierig ist die Abstimmung innerhalb der Gewerkschaften?

Das ist abhängig vom Thema. Können wir mit den Arbeitgebern Übereinstimmung erreichen, ist das oft auch unter den Gewerkschaften unstrittig. Themen wie Arbeitszeitverkürzung sind eher schwierig. Das ist eins der Themen, die schon in den einzelnen Gewerkschaften sehr kontrovers diskutiert werden.

Gibt es Themen, die man deswegen ausklammern muss?

Ausbildung ist so ein Thema. ver.di ist gegen eine Vereinheitlichung der Ausbildungsstandards. Da ziehen wir als EGÖD mit, denn wir wollen die dreijährige examinierte Ausbildung in Deutschland nicht durch die EU aushebeln lassen. Wir würden auf europäischer Ebene auch nicht über Lohn und über Arbeitszeitverkürzung reden. Es geht eher um Themen wie das Recht auf Qualifizierung oder Arbeitsschutz, Digitalisierung oder die Rahmenbedingungen von Telearbeit. Die EU-Kommission hat in den vergangenen fünf Jahren – so denke ich – viel gemacht im Sinne von Verbesserungen von Arbeitsbedingungen für die Menschen in Europa.

Zum Beispiel?

Die Mindestlohnrichtlinie in Verbindung mit der Steigerung der Tarifbindung, die Gesetzgebung für Lohntransparenz für Frauen, Verbesserungen im Schutz gegen Asbest oder Krebs verursachende Substanzen, die Umsetzung der Strategie der sozialen Säule unter anderem im Pflegebereich mit der Langzeitpflege-Strategie.

Die Kommission hat zudem in der Pandemie Geld zur Verfügung gestellt für Sozialmaßnahmen und zum Schutz von Arbeitsplätzen, und, als die Krise ein bisschen abgeebbt war, auch Geld für Investitionen freigemacht. Von Seiten der Gewerkschaften hätten wir es allerdings lieber gehabt, wenn es permanente Instrumente gewesen wären.

INTERVIEW: Heike Langenberg

Was ist ein Sozialer Dialog?

Der Europäische Vertrag, den die EU-Staaten miteinander geschlossen haben, setzt voraus, dass die Europäische Kommission die Entwicklung von industriellen Beziehungen unterstützt. Der sogenannte Soziale Dialog ist ein Teil davon. Die Europäische Kommission bietet Arbeitgebern und Gewerkschaften damit die Möglichkeit, sich auf europäischer Ebene treffen zu können.

Dabei liegt es in der Autonomie der Sozialpartner, sich zusammenzufinden und ihre Themen festzulegen. Es gibt mittlerweile 44 sektorale Soziale Dialoge, zum Beispiel im Handel, in der Metallbranche oder im Transportwesen.