Ausgabe 10/2007
Ein sozialer Quantensprung
ANDREA KOCSIS ist stellvertretende ver.di-Vorsitzende
ver.di PUBLIK | Kollegin Kocsis, wenn zum 1. Januar 2008 der Mindestlohn für die Briefzustellung kommt: Kann ver.di dann die Hände in den Schoß legen?
Kocsis | Natürlich nicht. Das ist ja, wie das Wort schon sagt, ein Mindestlohntarifvertrag, der faktisch ganz genau vier Zahlen, nämlich vier Stundenlöhne zwischen acht und 9,80 Euro enthält. Aber wir haben dann in unserem Land einen sozialen Quantensprung nach vorne gemacht, dass nämlich der Wettbewerb in der zum 1. Januar 2008 komplett liberalisierten Briefbranche nicht mehr über Hungerlöhne plus Subvention aus den Sozialkassen ausgetragen wird. Diesem Geschäftsmodell, das es auch in anderen Branchen gibt, muss ein Riegel vorgeschoben werden.
ver.di PUBLIK | Aus der Bauindustrie ist bekannt, dass der geltende Mindestlohn oft nicht eingehalten wird. Wie will ver.di die Umsetzung des Mindestlohns in der Briefbranche kontrollieren?
Kocsis | Zuständig für die Kontrolle sind der Zoll und die Betriebsräte. Ein Gesetz nicht zu machen, bloß weil es vielleicht nicht eingehalten werden könnte - so ein schüchternes Politikverständnis haben wir nicht. Übrigens treffen sich ja die Zusteller von PIN, Post und TNT auf ihren Zustellgängen. Die Kollegen werden sich nicht nur über das Wetter unterhalten. Und was die Betriebsräte angeht, die es noch nicht überall gibt: Wir gehen auf die Beschäftigten zu und unterstützen sie bei der Wahl und in der praktischen Arbeit. Es erfordert allerdings von den Beschäftigten ausgesprochenen Mut, sich im Betrieb zu engagieren.
ver.di PUBLIK | Gibt es Pläne, auch über Mindestbedingungen zum Beispiel bei der Arbeitszeit, bei der Fahrtkostenerstattung, beim Gesundheitsschutz oder auch beim Weihnachtsgeld zu verhandeln?
Kocsis | Selbstverständlich streben wir für die Beschäftigten der neuen Briefdienste auch tarifvertragliche Regelungen zu Arbeitszeit, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Zuschlägen und - das will ich herausheben - auch für Auszubildende an. Die PIN-Group zum Beispiel hat aber unsere im Juni übermittelten Forderungen nach einem Haustarifvertrag bis heute nicht bewertet.
ver.di PUBLIK | Die Gegner eines Mindestlohns in der Briefbranche haben bundesweit in Tageszeitungen Anzeigen geschaltet und sagen, es würden 50000 Arbeitsplätze vernichtet.
Kocsis | Das ist blanker Unsinn. Acht bis 9,80 Euro pro Stunde sind nicht zu viel, und jedes vernünftig geführte Unternehmen kann das bezahlen. Ich frage mich schon: Was ist das für ein Demokratieverständnis, wenn die Kanzlerin und der Vizekanzler in diesen Anzeigen - geschaltet von den Zeitungsverlegern höchst selbst - der Unterwanderung von Gesetzen bezichtigt werden. Das ist wie in einer Bananenrepublik: Wer das Geld hat, glaubt, auch die Macht beanspruchen zu können!