Kerstin Grether: Zungenkuß | "Ich bin seit meinem 13. Lebensjahr in der Krise!" Das muss die Pop-Autorin jemandem sagen, der zu privilegiert ist, um zu begreifen, warum sie für neue Krisen gewappnet ist. Als sie dann an ihre Beteiligung an der Musikzeitschrift Spex erinnert wird, kontert Grether selbstironisch: "Ach, ja, richtig, ich vergaß, ich habe ja an der heiligen Schrift mitgeschrieben!" Der Untertitel der Textsammlung "Du nennst es Kosmetik, ich nenn es Rock'n'Roll" steckt das Feld ab. So wie das "Starfoto" innen im Buch, das ernsthaft und süß zugleich ist, die Autorin mit Gitarre und Highheels zeigt. Die 1971 geborene Kerstin Grether hat nie nur über etwas geschrieben, was sie begeisterte oder aufregte, sie hat sich immer hineingeschrieben, abgearbeitet und ihren eigenen Anteil thematisiert. Exemplarisch ist dafür das Thema Magersucht, das sie am eigenen Leib erfuhr und erklärtermaßen so oft wie möglich anspricht. Wenn sie sich das nicht direkt im Interview traut, wie bei der "viktorianisch- magersüchtigen" P.J. Harvey, dann schreibt sie wenigstens in den Text hinein, wie hilflos und wütend sie sich deswegen fühlt. KLIX

SUHRKAMP TASCHENBUCH, 2007, 372 SEITEN, 10 €


Lars Saabye Christensen: Nachtschatten| Nach seinem dickleibigen Roman Der Halbbruder kocht der norwegische Vielschreiber sein Thema in einer kargen Erzählung ein. Wieder geht es ums Erwachsenwerden, um die eigene Positionierung in einer Welt, die dem Ich-Erzähler schon im Kleinen, der Familie, vollkommen undurchsichtig erscheint. Der zwölfjährige Adrian ist mitten in der Pubertät, als ihm die Nachricht vom gewaltsamen Tod des Vaters eiskalt serviert wird. Doch ihm scheint es gleichgültig. Zur Mutter verbindet ihn bis dahin eine enge Beziehung. Seit dem Unglück jedoch dämmert sie depressiv dahin, von der Tante weggeschlossen. Adrian schützt sich vor der Misere mit vermeintlicher Gefühlskälte, nur das pigmentlose Mädchen aus dem Haus hat Zugang zu ihm gefunden. Sie aber verschwindet spurlos. Alle Handlungsfäden verlieren sich im Unerklärten, der Wahrnehmung eines Kindes entsprechend, das mit nebulösen Lügen abgespeist wird. War der Vater schwul oder gar pädophil? Wohin ist die Mutter verschwunden, seit der Arzt sie aus der Verwahrlosung geholt hat? Endet alles als Tragödie oder Komödie? Der Leser darf am Höhepunkt dieses kunstvoll düsteren Romans selbst darüber entscheiden. Adrian bleibt diese Wahl nicht. JM

BTB 2007, 287 SEITEN, 19,95 €