Blick durch die Luke

Hamid Skif: Geografie der Angst | Es ist kein Weihnachtsgeschenk, kein Geburtstagsgeschenk. Es ist ein unbequemes Buch, dem man doch viele Leser wünscht. Dabei erzählt der kleine Roman des Exil-Algeriers Hamid Skif nichts, was man nicht wissen könnte, wenn man sich die Mühe machte, hinzuschauen. Eigentlich erstaunlich ist nur, wie fix solches Wissen wieder verdrängt, vergessen werden kann.

Skif skizziert den Alltag eines illegalen Immigranten, der sich gesichts- und namenlos in einer westeuropäischen Großstadt aufhält. Während draußen in den Straßen Jagd auf solche wie ihn gemacht wird, verbirgt er sich in einer scheinbar unbewohnten, stromlosen und ungeheizten Dachkammer. Die hat ein zunächst barmherziger Student zur Verfügung gestellt, der ihn auch alle paar Tage besucht und leidlich mit Lebensmitteln versorgt. Der Mensch wird vollkommen auf sich selbst geworfen in dieser Isolation. Seine Fantasien und Gefühle spielen mit ihm ihr böses Spiel. Bald wagt er sich gar nicht mehr heraus, vertraut nicht einmal mehr für einen kurzen Moment dem Schutz der Dunkelheit. Ganz selten riskiert er einen Blick durch die Dachluke, auf das gegenüber liegende Haus, wo andere Menschen ihr mehr oder minder geregeltes Leben leben. Sie werden zur Projektionsfläche seiner Erinnerungen. Gnadenlos verstrickt Hamid Skif seine Leser in eine Seelenreise. Man lernt Abgründe kennen: Angst in all ihren gemeinen Erscheinungsformen. Wie sie wütet, stinkt und winselt. Angst vor Armut, Hunger, Krieg. Wie schwer es ist, sich dagegen zu stemmen, Mut zu sammeln. Aufzubrechen, zu fliehen, die Suche nicht aufzugeben. Sich nicht zum Komplizen jener zu machen, die vom Elend profitieren: Dealer, Diebe, Schlepper. Immer wieder versprechen warme Lichter einen Ausweg, am Ende aber lauert der Abgrund - auf alle. Auf den Flüchtling, wie auf seinen Beschützer, auf die, die Gleichgültigkeit oder Unwissenheit demonstrieren. Und auf die, die helfen könnten, statt dessen aber Zäune bauen und den Ausgesperrten Fernseher aufschwatzen wollen. Noch einmal nimmt die Angst eine andere Erscheinung an: Wut.

Hamid Skif, der 1997 aus Algerien fliehen musste und seither in Hamburg lebt, pflegt die blumige Sprache arabischer Geschichtenerzähler, was hier aber eben nicht zu verspielten Szenen aus 1001 Nächten führt, sondern in drastischen Farben eine Geschichte hinter den Nachrichten unserer Tage malt. Die Übersetzung aus dem Französischen besorgte der Schweizer Schriftsteller Andreas Münzner, dem ein starkes Stück gelungen ist.

PETRA GROLL

Edition Nautilus, 158 Seiten, 16 €


Naomi Klein: Die Schock Strategie | Wer der Kapitalismuskritikerin Naomi Klein vorwirft, dass ihr neues Buch nicht alle Fragen der global-ökonomischen Lage erklärt, hat sicher Recht. Recht hat auch, wer sich über fehlende Alternativangebote mokiert und Antiglobalisierungsbewegte als diffuse Kräfte betrachtet - die lassen sich eben nicht über einen Kamm scheren. Kleins globale Politikgeschichten von Pinochets Chile über den Tsunami bis zum Chaos im Irak aber schon. Es geht um konkrete Fragen: Wie hat die radikal-marktliberale Chicagoer Schule unter der Anleitung von Milton Friedman Politik gemacht? Wie wurden ihre Vorstellungen von Privatisierung, Deregulierung und Kürzung der Staatsausgaben zur Durchsetzung freier Märkte umgesetzt? Und welche Folgen zeitigen ihre Einflussmaßnahmen auf die gegenwärtige globale Wirtschaftslage? Die Freihandels- und Privatisierungsideologie der Globalisierung hat mit diesem Buch ein einprägsames Portrait erhalten. Der sogenannte Katastrophen-Kapitalismus-Komplex ist ein praktikables analytisches Modell, auch wenn wir in Europa (noch) nicht Opfer der radikalliberalen Katastrophentaktik geworden sind.

ZÄH

SACHBUCH, AUS DEM ENGLISCHEN H. SCHICKERT, M. BISCHOFF, K.H. SIBER. S. FISCHER 2007, 763 SEITEN. 22,90 €


Liverpool Street | Der Bahnhof in London, an dem rettende Transporte jüdischer Kinder aus Nazideutschland ankamen, gab diesem Jugendbuch den Titel. Eins von ihnen ist 1938 Franziska Mangold. Ihre Eltern haben sie schweren Herzens allein weggeschickt, da ihre gemeinsamen Ausreisepläne bisher scheiterten. Ziska fragt ihre neue Pflegemutter sofort nach geeigneten Verstecken, für ein Mädchen wie sie und ihre beste Freundin überlebenswichtig im damaligen Berlin. Als assimilierte Jüdin protestantisch aufgewachsen, wurde Ziska durch die rassische Verfolgung zu einer Identität gezwungen, die ihr bisher ganz und gar fremd war. In England wiederum wird dann ausgerechnet das orthodox gelebte Judentum ihrer Gastfamilie zur Zuflucht. Die ihr anfangs so fremden Bräuche werden von Anne C. Voorhoeve wunderbar aus der lernenden Perspektive des jungen Mädchens geschildert. Ihr Glaube und das Vertrauen in sich selbst helfen Ziska, die jetzt Frances heißt, auch den Krieg zu überleben. Die Autorin lässt ihre junge kämpferische Heldin die eigene Geschichte unglaublich spannend erzählen.

Klix

ANNE C. VOORHOEVE, LIVERPOOL STREET, RAVENSBURGER BUCHVERLAG, 480 S., 16,95 €