Wie wir waren

Elma van Vliet: Mama/ Papa, erzähl mal! - Das Erinnerungsbuch deines Lebens | Diesen zwei Büchern liegt eine so entwaffnend gute Idee zugrunde, dass man sich wünscht, man wäre selbst darauf gekommen. Je ein Buch für die Eltern als charmante Aufforderung, sich erinnerungshalber mit sich selbst und seinem Leben auseinanderzusetzen, wichtige Gedanken zu notieren und sie mit Fotos oder anderen Lebensschnipseln zu ergänzen, um das Buch anschließend dem Sohn oder der Tochter zurückzugeben.

Denn ob man es hören mag oder nicht, die Zeit sitzt einem ja im Nacken. Dieses Gefühl beschlich jedenfalls die Niederländerin Elma van Vliet, als sie die Nachricht von der Krankheit ihrer Mutter erhielt und zahlreiche Fragen sie bestürmten. Was, wenn es irgendwann zu spät ist für Erklärungen, Erzählungen, Anekdoten und Erinnerungen? Wenn der Tod oder die Demenz oder Alzheimer schneller sind und die Antworten im Kopf auffressen, bevor die Fragen gestellt werden konnten? Was weiß man denn schon über das Leben der Eltern jenseits ihrer Funktion als Mutter und Vater? Was und wie waren sie eigentlich, wenn es nicht um mich ging?

Also schrieb die Autorin all ihre Fragen auf und machte ein Buch daraus. Ein Buch mit Rückgaberecht. Die Fragen zur Kindheit, zum Kinderwunsch, zur Liebe, zur Leibspeise bis zum Tod kommen zwar relativ leicht daher. Doch die Schriftform verlangt nach reiflicher Überlegung und hält die Antworten fest, die sich im Alltag oft zwischen Tür und Angel versenden. Ergänzt hat die Autorin ihre Fragenkapitel, die sich in wesentliche Lebensabschnitte aufteilen, mit Bildmaterial meist aus den 50er und 60er Jahren. Aus der Zeit also, als ihre Mutter jung war. Für spätere Auflagen bietet sich hier ein Update für nachfolgende Generationen an, die für ihre Jugend natürlich andere Bilder sprechen lassen würden. Gedichte, kurze Erinnerungstexte und Anekdoten von Menschen wie Heinrich Heine, Christiane Hörbiger oder Wolfgang Herles runden das "Erinnerungsalbum" ab. Die Resonanz hatte schnell einen zweiten Band zur Folge, den für den Vater ("Erzähl etwas über mich"). Der ist heute aus anderen Gründen als früher ein oft unbekanntes Wesen, denn wo sie früher wegen der Arbeit durch Abwesenheit glänzten, glänzen sie heute oft nur noch durch Abwesenheit. Geht man also davon aus, dass Kinder diese Bücher ihren Eltern schenken, ist ein vergleichender Blick auf die Verkaufszahlen beider Bände sicherlich in vielerlei Hinsicht aufschlussreich.

JENNY MANSCH

KNAUR 2007, Ü: ILKA HEINEMANN/ MATTHIAS KUHLEMANN, 144 SEITEN, je 12,90 €

Mirjam Pressler: Golem stiller Bruder | Die preisgekrönte Jugendbuch-Autorin legt hier einen großartigen historischen Roman vor. Das Buch, das auch Erwachsene durch Thematik und sprachliche Schönheit anspricht, erzählt die Legende vom Golem neu und überwältigend. Das Prag von 1600 wird aus der Sicht des Jungen Jankel erlebt. Mit seiner Schwester kommt er in das jüdische Stadtviertel, um dort im Haus seines Großonkels Rabbi Löw Obdach zu finden. Jankel erfährt, dass der stumme Synagogendiener Josef in Wahrheit ein aus Lehm geschaffenes Wesen ist. Anfangs flößt Josef dem Jungen Furcht ein, doch mehr und mehr erkennt er in ihm seinen "stillen Bruder". Wir werden Zeuge, wie der Golem immer wieder seiner Bestimmung gemäß die Juden beschützt. Aber nachdem er ein letztes Mal für die Seinen kämpfte, läuft er Amok. Im Gefühl, vermessen gehandelt zu haben, muss sich Rabbi Löw von seinem Geschöpf trennen. Dieses Buch wird einmal ein "Klassiker" wie Otfried Preußlers Krabat.

KLIX

Beltz & Gelberg, 2007, 372 S., 16,90 €

Paul Torday: Lachsfischen im Jemen | Fische statt Waffen für den Nahen Osten, welch eine grandiose Idee. Nach Jahrzehnten kolonialistischer und kriegerischer Intervention am Krisenherd könnte ein erfolgreiches Wirtschaftsprojekt womöglich zu positiven Schlagzeilen in der Presse führen. Der Medienberater des britischen Premiers wittert Morgenluft und versucht, das Unternehmen mit aller Macht voranzutreiben. - Lachse! Ausgerechnet Lachse sollen mitten in der jemenitischen Wüste angesiedelt werden, in einem Fluss, der nur zur Regenzeit Wasser führt. Welch ein absurder Gedanke! Dr. Alfred Jones, Fischereiwissenschaftler beim britischen Landwirtschaftsministerium winkt entschieden ab. Spinnerte Idee eines durchgeknallten Ölscheichs, denkt er. Aber da hat sich Dr. Jones gründlich verschätzt: Die Politik macht erheblichen Druck, und der Scheich erweist sich als ebenso visionär wie vermögend. Halb geschoben und halb gezogen lässt Dr. Jones sich auf das Experiment seines Lebens ein. Mit ungeahnten Folgen: Buchstäblich alles, was für den eher nüchternen, sogar etwas langweiligen Akademiker bislang Gewissheit hatte - politisch, privat und wissenschaftlich - wird bei diesem Abenteuer auf den Kopf gestellt. Und die Leserin erfreut sich an jeder neuen Kapriole. Der Literaturwissenschaftler Paul Torday hat mit 61 Jahren einen Debütroman vorgelegt, der in der Kurzform von Briefen und E-Mails, geschäftlichen Memos, parlamentarischen Protokollen und Tagebuchaufzeichnungen eine wunderbar leichtfüßige Groteske entfaltet - feinste Unterhaltung.

PE

BERLIN VERLAG 2007, Ü: THOMAS STEGERS; 318 S., 19,90 €