Ausgabe 03/2008
Die Co-Manager von Frankenberg
Von Heide Platen (Text) und Frank Schinski (Fotos) |Die Co-Manager von Frankenberg
Wahre Mitbestimmung ist selten zu finden in deutschen Unternehmen. Dabei ist die Einbeziehung von Mitarbeitern äußerst nützlich. Das Lebenshilfewerk in Frankenberg, Nordhessen, macht es vor. Eine Betriebsbesichtigung
Von Heide Platen (Text) und Frank Schinski (Fotos)
Die Büros des Betriebsratsvorsitzenden und des Geschäftsführers liegen Tür an Tür. Das, sagt Geschäftsführer Wolfgang Lassek, "ist fast schon Programm". Beide arbeiten im Dachgeschoss, beide sind nur über eine steile Wendeltreppe zu erreichen. Der Platz ist durch den Ausbau des Dachstuhls entstanden. Die Räume symbolisieren das Erfolgskonzept des Lebenshilfewerkes (LHW) im nordhessischen Frankenberg: die knappen Ressourcen besser nutzen und gleichzeitig die Qualität der Arbeitsbedingungen möglichst nicht verschlechtern, sondern verbessern. Zusammenarbeit auf kurzem Weg, jeder Zentimeter ist ausgenutzt.
Die Universität Kassel hat dem Lebenshilfewerk in einer Studie zum Zusammenhang von Innovation und Mitbestimmung in Unternehmen jüngst ein besonders gutes Zeugnis ausgestellt. Bei "Innovation", sagt einer der Autoren der Studie, der Sozialwissenschaftler Jürgen Klippert, werde immer "erst mal an High Tech gedacht" und nicht an den sozialen und Dienstleistungsbereich. Den LHW-Mitarbeitern und Managern sei "zuerst eigentlich gar nicht so recht klar gewesen, dass sie so innovativ sind". Der soziale Sektor aber sei gerade in Zeiten leerer öffentlicher Kassen besonders zum Existenzkampf, zu ständiger Anpassung an die politischen Gegebenheiten gezwungen: "Und ich finde, sie machen das besonders gut." Die Zusammenarbeit zwischen Management, Betriebsrat und Mitarbeitern sei "vorbildlich", der Diskurs intensiv, die Partizipation echt, die Strukturen transparent. Auch unter sich verschlechternden Rahmenbedingungen sei bisher nicht "mit knallhartem Kalkül" versucht worden, "nur immer mehr aus den Leuten herauszuholen".
Ralf Rüdiger Mütze, Vertreter des Behindertenrates
Spannungen zwischen Mitarbeitern und Management wurden bisher einvernehmlich gelöst
Im November wird die Lebenshilfe 50 Jahre alt, ein gemeinnütziger Dienstleistungskonzern mit einem Dachverband, der bundesweit in rund 3000 Einrichtungen 150000 behinderte Menschen betreut. Auch das Lebenshilfewerk Waldeck-Frankenberg ist ein großer Betrieb, der schwer körperlich, seelisch und geistig behinderte Menschen in Tageseinrichtungen und in Dauerpflege versorgt, Beratung und Hilfe für deren Angehörige und Schulungsseminare für Fachkräfte bietet, Behindertenarbeitsplätze schafft. Auf einem Hofgut wird Getreide angebaut, werden Schweine und Rinder gehalten, Behinderte arbeiten in Gärtnerei, Schreinerei, einem Landgasthaus. Zwei Bioläden sind als Firmentöchter angeschlossen. In den Werkstätten wird vor allem für Zulieferfirmen aus der Elektro- und Autoindustrie produziert. 460 Menschen sind für diese Aufgaben hauptamtlich angestellt. Sie sind für rund 700 Behinderte zuständig. Diese sind, obwohl "produktiv und kreativ", wie Jürgen Süß sagt, "keine Arbeitnehmer im eigentlichen Sinn". Ihre Entlohnung ist gering, zwischen 100 und 300 Euro monatlich. Sie arbeiten nicht kostendeckend, ihre Arbeitsplätze werden teilweise vom Landeswohlfahrtsverband und durch die Sozialhilfe finanziert. Das Lebenshilfewerk macht keine Gewinne.
Dass es in Zeiten knapper werdender öffentlicher Zuschüsse auch beim Lebenshilfewerk Spannungen zwischen Betriebsrat, Mitarbeitern und Management gibt, sei unvermeidlich, meint der Gewerkschafter. Aber die hätten bisher immer einvernehmlich gelöst werden können: "Wir sind ein bisschen stolz darauf, dass wir bei der Entlohnung der Festangestellten noch immer eine Leuchtturmeinrichtung sind", sagt Jürgen Süß. Es gelten die Tarifverträge des Öffentlichen Dienstes. Dass der Betrieb in der Studie der Universität Kassel so besonders gut abschnitt und auch von der Industrie- und Handelskammer öffentlich gelobt wurde, macht den Betriebsrat fast ein bisschen verlegen: "Wir sind auch nicht der seltene Diamant unter den Betrieben." Eigentlich, meint er, "haben wir nur das gemacht, was wir schon immer machen".
Herzstück der Firmenphilosophie ist ein internes Vorschlagswesen. Dass Firmenchefs und Geschäftsleitungen jedoch auf ihre Mitarbeiter hören und deren Vorschläge auch umsetzen, ist bisher in Deutschland eher unüblich, wie eine Studie ergab (siehe Kasten).
Geschäftsführer Wolfgang Lassek
Die Mitarbeiter sind zufrieden mit der Firma, weil sie unzufrieden sein dürfen
Tobias Schmidt (37) jedenfalls wird gehört. Er zählt sorgfältig zusammen: 15 Veränderungsvorschläge hat er in sechs Jahren gemacht. Ungefähr die Hälfte davon ist für gut befunden und angenommen worden. Der gelernte Bankkaufmann findet, das sei "eine ganz gute Quote". Der ehemalige Wertpapierberater ist für die Planungs-Sofware des Lebenshilfewerkes verantwortlich. Und er ist zufrieden mit dem Management seiner Firma, weil er unzufrieden sein darf und Vorschläge erwünscht sind. Er hat geholfen, die elektronische Werbung zu verbessern, den Bahncard-Einkauf für die Mitarbeiter zu vereinfachen. Sein liebster Vorschlag aber war die Vereinheitlichung der Briefbögen: "Das ist richtig schön, weil ich mich jedes Mal daran erinnere, wenn ich einen Brief schreibe."
Betriebsrat Jürgen Süß stand dem "Co-Management" als Gewerkschafter zuerst sehr skeptisch gegenüber und dachte dabei mit einem gewissen Argwohn vor allem an die Unternehmensführung. Echte Partizipation sei schwer zu haben und dürfe nicht nur der Rationalisierung dienen. Von Anfang an habe "relative Offenheit" geherrscht, aber: "Das heißt nicht, dass es keine Konflikte gäbe. Wir fahren hier keinen Schmusekurs." Gegen die Einführung von Ein-Euro-Jobs wurde hart gestritten. "Heute sieht auch die Geschäftsführung, dass das richtig war." Ex-Banker Tobias Schmidt stellte nach dem Wechsel zum Lebenshilfewerk fest: "Ich wusste vorher gar nicht, was Betriebsratsarbeit bedeutet." Hier könne man anhand der geschlossenen Betriebsvereinbarungen ablesen, wie stark sich die Arbeitnehmervertreter einmischen.
Tobias Schmidt sind Rückmeldungen wichtig über das, was, wie und warum umgesetzt wird oder auch nicht. Mit dem Vorschlag für ein zentrales Lager ist er gescheitert. Einen weiteren, sagt sein Kollege Matthias Meyer, zuständig für die Kostenkontrolle, haben sie beide gemeinsam eingebracht. Er hätte gravierend in die Unternehmensstruktur eingegriffen und ist abgelehnt worden, sei aber dennoch "richtig gut" und später "teilweise umgesetzt" worden. Deshalb gebe es mittlerweile eine zentrale Planungsabteilung. Matthias Meyer zählt für sich neun Vorschläge zusammen, drei angenommen, drei abgelehnt und drei noch in Arbeit. Er findet es "toll", dass gute Ideen "auch geordnet realisiert werden können, und der Chef nicht nur sagt, okay, dann mach mal".
Eine seiner Lieblingsideen war die Kundenkarte für Mitarbeiter und deren Angehörige. Sie können nun mit Rabatt in den Lebensmittelläden des Lebenshilfewerkes einkaufen: "Das sind rund 3000 Personen, die als Multiplikatoren wertvoller und preiswerter sind als Werbung." Meyers Steckenpferd sind das äußere und innere Erscheinungsbild des Lebenshilfewerkes: einheitliche Posteingangsstempel und Firmenlogos, Aktualisierung von Zeitungsinseraten, visueller Überblick im Intranet.
Magdalena Siebold, Leiterin der Wäscherei
Die innerbetriebliche Mitbestimmung bezieht, soweit möglich, auch die Behinderten ein
Die Räume der Frankenberger Betreuungseinrichtung und der Werkstätten im roten Backsteingebäude auf dem Hügel über dem Ort sind hell, lichtdurchflutet. Aus allen Fenstern der Werkstätten ist der Blick unverstellt: sanfte Hügel, weite Wiesen, Wälder. Die Erholungsgebiete rund um die Edertalsperre sind oberhessische Touristenattraktion. Das, sagt Geschäftsführer Wolfgang Lassek, "hilft auch, und kostet nichts". In den Werkstätten ist um 15 Uhr Feierabend. Angehörige und Fahrdienste holen die Männer und Frauen ab, die hier sechs Stunden lang gearbeitet haben. Das Lebenshilfewerk habe, sagt Matthias Meyer, eine "sehr gute Streitkultur", mit der bisher "immer Gutes erreicht" worden sei.
Das schlägt sich offensichtlich im Betriebsklima nieder. Der Betriebsrat, groß und dunkel, immer vorneweg, der Geschäftsführer, kleiner und blond, hinterher, werden beim gemeinsamen Rundgang durch die Werkstätten überall begeistert begrüßt. Die Behinderten kennen beide. Da muss sich Jürgen Süß gefallen lassen, dass er wegen seiner nur ganz leicht längeren Haare von einem älteren Behinderten als "Gammler" tituliert, aber dennoch herzlich umarmt wird. "Hier machen die Menschen sich nichts vor, hier ist ganz viel Ehrlichkeit", sagt Jürgen Süß.
In der Wäscherei rattern große Wachmaschinen und Trockner. Die Geräte sind modern, kein Wasserdampf, die Luft ist angenehm warm. 300 Kilogramm Textilien werden hier täglich für den Eigenbedarf und im Auftrag für Gaststätten, Restaurants und Hotels gewaschen, gemangelt und gepresst. Nur im Sommer, sagt Leiterin Magdalena Siebold (55), "kann es hier sehr heiß werden". Die Kunden haben keine Vorbehalte, Behinderte zu beauftragen. Im Gegenteil, sie schätzen deren Arbeit, weil diese ihren ganzen Ehrgeiz darein setzen, alle Aufträge besonders ordentlich und pünktlich zu erfüllen. Magdalena Siebold, eine schmale, resolute Person, hat ihre Karriere beim Lebenshilfewerk vor 25 Jahren als Reinigungskraft begonnen. Die gelernte Fotolaborantin suchte nach der Geburt ihres Sohnes eine Arbeit, "egal, was", zu der sie auch ihr Kind mitnehmen konnte, weil ihr Mann Schicht arbeitete. Sie half in der Küche aus, in den Läden, in der Wäscherei. Vor vier Jahren hat sie eine sonderpädagogische Zusatzausbildung absolviert. Ihr Arbeitgeber hat sie unterstützt, so wie sie die Behinderten unterstützt: "Es ist einfach klasse, wenn jemand sich traut, etwas zu machen, was er vorher noch nie gemacht hat." Die innerbetriebliche Mitbestimmung bleibt nicht auf die Angestellten beschränkt, sondern bezieht, so weit möglich, auch die Behinderten ein.
In der Werkstatt nebenan arbeitet Ralph Rüdiger Mütze. Er ist Spastiker, sitzt im Rollstuhl und presst an einer Maschine Kunststoffklammern für Lampen und Leuchtröhren, tausend Stück schafft er pro Tag. Der Arbeitsraum ist bunt dekoriert, Mobiles an der Decke, Sofas als Ruheoasen, ein Aquarium. Arbeitnehmer brauchen ihre Pausen. Mütze ist nicht nur Objekt der Betreuung, sondern kann als Vertreter des Behindertenrates mitbestimmen, Arbeitsplätze gestalten und Abläufe regulieren. "Wir setzen", sagt Gruppenleiterin Petra Neubauer, "bei den Stärken und nicht bei den Defiziten an." Nicole Starke zum Beispiel hat sich ihre derzeitige Arbeit selbst ausgesucht und ist stolz darauf. Sie wiegt die Säcke mit den Kunststoffklammern ab und zählt sie. Dass sie behindert ist, weiß sie, kennt aber den Namen für ihre Krankheit nicht. Sie ist, sagt Petra Neubauer, eigentlich "ganz normal behindert, irgendwie so, wie wir alle". Das Credo der Einrichtung hängt gerahmt an der Wand in der Eingangshalle: "Jeder Mensch ist einzigartig und unverwechselbar. Daher ist es normal, verschieden zu sein", denn "niemand ist ausschließlich behindert oder nichtbehindert, wie auch niemand krank oder völlig gesund ist".
Jürgen Süß, Leiter des Betriebsrates
Alle Vorschläge werden mit zehn Euro honoriert - egal, ob sie umgesetzt werden oder nicht
Matthias Jäger, der Leiter der Schlosserei, ist als Betriebsrat auch für die Arbeitssicherheit zuständig. Beim Bohren und Fräsen brauchen behindertengerechte Maschinen oft eigene Schutzvorrichtungen. Die Werkstatt hat sich auf seltene Spezialprodukte spezialisiert, die für große Firmen zu arbeitsintensiv sind. Sie glättet Plastikschläuche für Stuhlhersteller, fertigt Kästen für elektrische Weidezäune und Sensoren für Wärmespeicher. Sie muss termingerecht arbeiten. Kein Platz für Beschäftigungstherapie, sagt Jäger. "Das ist ernsthafte Arbeit und hat mit Bastelei nichts zu tun!" Von der Kritik, dass Behinderteneinrichtungen reguläre Arbeitsplätze vernichten, will Betriebsratsvorsitzender Jürgen Süß nichts wissen: "Wir agieren am Markt und sind die günstigsten Anbieter."
Jäger zeigt Verbesserungen, die in seiner Werkstatt entwickelt, Sicherheitsvorrichtungen und Anschlagschienen, die speziell für die behinderten Mitarbeiter gebaut wurden. Das Vorschlagswesen gibt es seit 2001. Die Bedingungen sind in einer Betriebsvereinbarung geregelt. Alle Ideen der Mitarbeiter werden honoriert, egal, ob sie umgesetzt werden oder nicht, jeder bekommt einen Warengutschein im Wert von zehn Euro. Ist eine Idee praktikabel und wird verwirklicht, wird sie mit Prämien zwischen 80 bis 1250 Euro netto honoriert. Das Geld wird als Scheck überreicht. Dabei ist, gibt Jürgen Süß zu, "ein bisschen Psychologie im Spiel": "Das ist Anerkennung zum Anfassen." Aber nichts, was nicht noch verbesserungsfähig wäre. Es gibt den Vorschlag, auf derlei Feinheiten schlicht zu verzichten und die Prämie zu überweisen. 2006 gab es 43 Vorschläge, die von einem Bewertungsausschuss geprüft wurden, in dem Management und Betriebsrat gemeinsam entscheiden. Beschlüsse müssen einstimmig gefasst werden. Die Effektivität wird kontrolliert. Jürgen Süß: "70 bis 80 Prozent sind nachhaltig." Es gehe oft "wirklich nicht um große Erfindungen, sondern um einfache Dinge des Alltags."
Manche Vorschläge aber machen auch Betriebsrat Jürgen Süß zu schaffen. Er steht zur ökologischen Ausrichtung seiner Firma, aber der Landkreis Waldeck-Frankenberg sei "so groß wie das Saarland", die Einrichtungen weit verstreut. Da muss er viel herumfahren. Der Gedanke, dies künftig in einem Solarauto tun zu müssen, behagt ihm nicht so recht.
Das Hofgut des Lebenshilfewerkes
Selbstblockade statt Mitbestimmung
Das Lebenshilfewerk ist in Sachen Mitbestimmung ein vorbildlicher Betrieb. Das ergab das Forschungsprojekt "Partizipation und Innovation - Mitbestimmung im Wandel" des Instituts für Arbeitswissenschaft an der Universität Kassel. Die Wissenschaftler untersuchten seit Mai 2005 die betriebsinternen Umgangsformen und Kommunikationsstrukturen zwischen Management und Mitarbeitern. Das Projekt wurde von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Mit seiner betrieblichen Durchlässigkeit gehört das Lebenshilfewerk zu einer eher kleinen Gruppe von Unternehmen in der Republik. Eine Ende 2006 vorgelegte Studie des Marktforschungsinstituts EuPD Research ergab, dass nur jeder vierte der umsatzkräftigsten 500 deutschen Konzerne die Verbesserungsvorschläge seiner Mitarbeiter nutzt. Jeder dafür eingesetzte Euro aber, sagen die Experten, verzehnfache sich durch Einsparungen oder Zugewinn durch bessere Nutzung der Ressourcen. Viele Führungskräfte hätten dies noch nicht erkannt und blockierten sich damit selbst. Ideenmanagement, gefördert durch Honorare und interne Wettbewerbe, seien, so die Marktforscher, auch insgesamt ein "guter Indikator für die Führungsqualität des Managements", denn nur Unternehmen mit "zufriedenen Mitarbeitern" seien "auf Dauer innovativ".