Stachel im Fleisch

Der Europäische Flüchtlingsrat in Brüssel kämpft für mehr Solidarität mit Menschen auf der Flucht

Marokkanischer Flüchtling beim Versuch, den spanischen Stacheldrahtwall bei Ceuta zu überwinden

Bjarte Vandvik hat schon lange keinen Flüchtling mehr aus der Nähe gesehen. Früher, als er noch Journalist war, und dann als junger Freiwilliger im Iran, wo er für die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen UNHCR gearbeitet hat, da war er mittendrin, war oft persönlich involviert in die Schicksale der Verfolgten und Gehetzten. "Das ging schon unter die Haut", sagt er. Aber hier im zweiten Stock dieses gediegenen Bürohauses in der Rue Royale in Brüssel ist davon wenig zu spüren. Hier dreht sich zwar alles um Flüchtlinge. "Aber wir sehen sie nicht", sagt Vandvik.

Seit knapp eineinhalb Jahren ist der 43-jährige Norweger Bjarte Vandvik Generalsekretär des Europäischen Flüchtlingsrates ECRE, dem Dachverband von 80 europäischen Asylorganisationen. Die Arbeiterwohlfahrt zum Beispiel, Caritas und Pro Asyl sind Mitglieder im Europäischen Flüchtlingsrat. "Wir machen vor allem die politische Arbeit", erklärt Vandvik, "wir erinnern die Politiker daran, dass es kein Verbrechen ist, Schutz vor Verfolgung zu suchen."

Unbemannte Flugzeuge gegen unerwünschte Grenzgänger

So wie zuletzt Mitte Februar, als der für Asylfragen zuständige EU-Kommissar Franco Frattini drüben im Europaviertel einen ganzen Katalog von neuen Maßnahmen für die Außengrenzen der Europäischen Union vorlegte. Satelliten und unbemannte Flugzeuge sollen unerwünschte Grenzgänger aus der Luft aufspüren, Spezialkameras an den Übergangsstellen sollen den Reisenden die biometrischen Daten aus dem Gesicht lesen und mit Datenbanken abgleichen. Da saß der blasse Norweger den ganzen Tag am Telefon, gab Interviews und warnte vor der elektronischen Aufrüstung der Festung Europa.

Dabei hat er durchaus Verständnis für das zunehmende Sicherheitsbedürfnis vieler Europäer. "Dass man schärfere Gesetze macht und dann Maßnahmen beschließt, um diese Gesetze auch durchzusetzen, das geht in Ordnung", sagt er, "aber die Grenzen müssen dabei sensibel bleiben für Menschen, die Schutz brauchen." Krieg und Verfolgung seien leider eine Realität auf dieser Welt, dem müsse nicht nur das Asylrecht, sondern auch die Asylpraxis Rechnung tragen. "Das Problem ist doch, dass es für viele Verfolgte fast unmöglich wird, legal nach Europa zu kommen", meint Vandvik, "die kommen doch gar nicht mehr so weit, dass sie einen Asylantrag stellen könnten."

Vandvik spricht ruhig und unaufgeregt. Er wirkt etwas überarbeitet und ein bisschen fahrig. Aber er findet immer wieder zurück zum Thema. Er wettert nicht, er bringt Argumente vor, redet über Solidarität und europäische Geschichte. Vandvik weiß, worauf Beamte und Politiker Wert legen. Er war selbst einige Jahre Diplomat im Dienst der norwegischen Regierung, zuständig für die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union in der Innen- und Justizpolitik. In Norwegen geht das, sagt er, von einer Flüchtlingsorganisation in die Regierung zu wechseln und dann wieder zurück. In einem kleinen, liberalen und reichen Land sei das sicher leichter als anderswo", meint er: "Ich musste mich jedenfalls nicht verbiegen."

Der deutsche Innenminister lehnt Gespräche ab

In Norwegen, erzählt er, sei es üblich, dass sich Minister regelmäßig mit Asylorganisationen zusammensetzen, um über das rechte Gleichgewicht von Solidarität und Sicherheit zu reden. In Europa funktioniere das aber nur teilweise. Seit einigen Jahren treffen sich die Spitzen des Europäischen Flüchtlingsrates vor jeder EU-Ratspräsidentschaft mit dem zuständigen Innenminister: "Nur der deutsche Innenminister hat abgelehnt", erzählt Vandvik, "der wollte nicht mit uns reden."

Dabei ist der Europäische Flüchtlingsrat in Brüssel längst eine feste Größe. Die EU-Kommission lädt ihn regelmäßig zu Anhörungen über Flüchtlingsprobleme ein. "Wenn es um Detailfragen geht, dann rufen die auch mal an", so Vandvik, "oder wir schicken unseren Rechtsexperten rüber."

Nicht-Regierungsorganisationen wie der Flüchtlingsrat gelten in Brüssel als wichtige Informationsquellen. Sie haben konkrete Erfahrungen gesammelt und können am besten einschätzen, wie sich neue Asyl-Gesetze in der Praxis auswirken. "Man ist gut beraten, da genau hinzuhören", sagt der CSU-Europaabgeordnete Manfred Weber, der gerade einen Bericht über die geplante EU-Abschiebungsrichtlinie ausarbeitet, "manche Argumente kann man gut übernehmen."

Dabei ist Weber nicht gerade ein Vorkämpfer für liberale Asylgesetze. Aber er hat sich überzeugen lassen, dass in der künftigen Richtlinie doch manches auch zum Schutz der Asylsuchenden nachgebessert werden muss. Vor allem, wenn Flüchtlinge von der Küstenwache aufgegriffen werden, gebe es offensichtlich Probleme: "Auf hoher See wird das Recht sicher nicht immer eingehalten."

Für Bjarte Vandvik sind die Europaabgeordneten wichtige Ansprechpartner. Leider habe die Aufmerksamkeit der Volksvertreter deutlich nachgelassen, klagt er. "Solange das EU-Parlament nichts zu sagen hatte, haben uns die Abgeordneten gerne zugehört." Doch seit das Hohe Haus immer mehr Macht habe, hielten die Mitglieder größeren Abstand. Sie wollen sich nicht mehr ins Gewissen reden lassen.

Die Türen offen halten

Vandvik und seine Leute verbringen viel Zeit damit, einfach nur die Türen zu den Entscheidungsträgern in Brüssel offen zu halten. Dabei ist sein Haupt-Büro noch immer in London, und er schaut auch schon wieder nervös auf die Uhr, weil er gleich zum Bahnhof muss. Zweimal die Woche sitzt er im Eurostar, weil die Zentrale von ECRE in der britischen Hauptstadt ist, weil 23 der 30 Mitarbeiter dort ihren Schreibtisch haben. Obwohl die Musik längst in Brüssel spielt.

Als ECRE vor 34 Jahren anfing, da ging es vor allem um den Schutz portugiesischer Deserteure. Das waren Soldaten, die den Kolonialkrieg in Angola und Mozambique nicht mehr mittragen wollten und bis zum Sturz der Diktatur von der Armee gesucht wurden. "Eine Handvoll Flüchtlingsorganisationen hat sich damals zusammengetan, um diesen Leuten über die Grenzen hinweg helfen zu können", schildert Vandvik. Er hat sich das angelesen, er selbst ging damals noch zur Schule. Zehn Jahre später wählte ECRE den ersten Generalsekretär, und weil das ein Engländer war, hat der Flüchtlingsrat seinen Sitz damals in London genommen.

Erst 1995, als sich abzeichnete, dass die Europäische Union den Nationalstaaten immer größere Teile der Asylpolitik abnimmt, öffnete der Europäische Flüchtlingsrat ein Verbindungsbüro in Brüssel, gleich neben der EU-Kommission. Sechs Leute arbeiten bislang in diesem Büro, sechs Leute, denen die Arbeit zunehmend über den Kopf wächst.

Bjarte Vandvik will das jetzt korrigieren. Im Mai soll die ganze Organisation nach Brüssel umziehen. Vorne, in der Büroflucht zur Rue Royale hin, warten bereits 15 neue Schreibtische auf die Mitarbeiter aus London. Doch mit den Umzugsplänen hat sich Vandvik nicht nur Freunde gemacht. Eine ganze Reihe von Mitarbeitern will lieber kündigen, als aus London wegzuziehen. Der Generalsekretär wird wohl ein paar Stellen ausschreiben müssen.

Man sieht ihm an, dass ihm das zu schaffen macht. Aber er hält den Umzug für notwendig. "Brüssel ist wichtiger", sagt er, "hier treffen wir auch die Leute aus den nationalen Mitgliedsorganisationen öfter." Viele hatten regelmäßig Termine in Brüssel. Politisch sei London einfach etwas ab vom Schuss. Und außerdem: "In Brüssel wird die Asyl-Politik gemacht, auf die wir Einfluss nehmen wollen."