Nach dem Regierungswechsel bestimmen Wirtschaftsprobleme und politische Debatten den kubanischen Alltag

Beobachtungen aus Havanna

Auf einer Farm in Kubas westlichster Provinz Pinar del Río ruht sich ein Landarbeiter aus

Als Raúl Castro nach seiner Wahl zum neuen Präsidenten Kubas über seinen Bruder sprach, wirkte das beinahe wie ein Nachruf. "Fidel ist unersetzbar", bekräftigte er vor der Nationalversammlung in Havanna am letzten Sonntag im Februar. Kurz zuvor hatten die 614 Abgeordneten den 76-Jährigen in geheimer Abstimmung zum neuen Chef des 31-köpfigen Staatsrates bestimmt - und damit zum Präsidenten der Republik. An seinem fünf Jahre älteren Bruder Fidel, in dessen Schatten Raúl Castro ein Leben lang gestanden hat, kam er selbst in seiner Antrittsrede nicht vorbei: "Wenn er einmal nicht mehr physisch anwesend sein sollte, wird das Volk sein Werk fortführen." Fidel Castros Ideen erst hätten "diese Bastion der Würde und Gerechtigkeit geschaffen, die unser Land heute darstellt." Die Parlamentarier reagierten mit minutenlangem Applaus und machten damit deutlich: Die Ära Fidel Castro wird auch nach dessen Rückzug aus der Regierungspolitik andauern.

Mit der Wahl des bisherigen Vizepräsidenten ging am 24. Februar eine fast eineinhalbjährige Übergangsphase zu Ende. Mitte 2006 hatte Fidel Castro die Amtsgeschäfte an seinen jüngeren Bruder und Stellvertreter abgegeben. Monate später erst wurde bekannt, dass er sich mehreren komplizierten Operationen unterziehen musste. Mental hat er sich von den Eingriffen erholt, physisch nicht: In der Öffentlichkeit ist der 81-Jährige seither nicht mehr aufgetreten.

Während der als pragmatisch geltende Raúl Castro die Regierung des sozialistischen Inselstaates weiterführte, veröffentlichte Fidel dutzende Aufsätze. Die "Reflexionen des Comandante en Jefe", des Oberbefehlshabers, füllen seitdem in unregelmäßigen Abständen ganze Seiten der kubanischen Tagespresse und befassen sich - oft weitschweifig - mit einer großen Bandbreite von Themen vom Klimawandel bis zur US-Innenpolitik.

Er wolle ein "Soldat der Ideen" bleiben, hatte Fidel Castro dazu wenige Tage vor der Wahl von Staatsrat und Präsident geschrieben. Eine erneute Kandidatur zur Präsidentschaft aber wolle er "weder anstreben noch akzeptieren", hieß es in der lange erwarteten Botschaft zugleich. Fidel Castro stand 49 Jahre der Regierung Kubas vor: 18 Jahre als Ministerpräsident, nach einer Verfassungsreform 1976 als Präsident der Republik.

In Kuba war dieser erwartete, letztlich aber doch überraschende Rückzug des "Comandante en Jefe" gefasst aufgenommen worden. Während internationale Fernsehsender von CNN bis Deutsche Welle mit Sondersendungen auf die Nachrichten aus Havanna reagierten und einen möglichen politischen Wandel ins Zentrum ihrer Berichterstattung rückten, blieben die Kubanerinnen und Kubaner gelassen. "Fidels Abtritt war zu erwarten", sagte Iliana Hernández. Fidel Castro sei für das Land "so etwas wie ein Juwel", meinte die Angestellte eines Hotels in der Altstadt von Havanna. "Nach seinem Abtritt haben viele Leute Angst, diesen Schatz zu verlieren." Zugleich betonte die 45-Jährige die Notwendigkeit von Veränderungen, "vor allem auf wirtschaftlicher Ebene". Das Transportproblem, die Versorgung mit einigen Gütern, die Stromversorgung, das doppelte Währungssystem - all dies müsse gelöst werden.

Solche Einschätzungen waren in der Hauptstadt Havanna immer wieder zu hören. "Zum Phänomen Fidel Castro gehört seine Unantastbarkeit," sagt der junge Schriftsteller Osmany Oduardo Guerra. Die nach 1959 Geborenen sehen in dem Revolutionsführer so etwas wie einen zweiten Vater, erklärt er: "Jeder von uns ist mit Fidel aufgewachsen, in der Schule, zu Hause; Fidel hat uns ins Ferienlager begleitet und ins Bett gebracht." Heute werde den Schülern beigebracht, Fidel sei ihr "abuelito", ihr Großväterchen. Fernab dieses emotionalen Bezugs ist den Kubanerinnen und Kubanern aber auch klar, dass die sozialistische Führung dem Karibikstaat die Unabhängigkeit des Landes von den übermächtigen USA bewahrt hat. Zwanzig Jahre nach dem Ende der sozialistischen Staatsführungen in Europa trägt diese Erkenntnis noch immer zum Fortbestand des Systems in Kuba bei.

Der Zugang zu Devisen spaltet die Gesellschaft

Doch es gibt eine zweite Wahrheit: die wirtschaftliche. Nach dem Zusammenbruch des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe Anfang 1991 stürzte Kuba in eine Krise, von der sich das Land bis heute nicht erholt hat. Die Legalisierung des Devisenbesitzes wenige Jahre später schuf ein Problem, das bis heute den Alltag der Menschen bestimmt. Kuba ist heute zwar keine Zwei-Klassen-, wohl aber eine Zwei-Schichten-Gesellschaft: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die nur Zugang zu dem schwachen kubanischen Peso haben. Auf der anderen Seite finden sich jene, die an Devisen gelangen. Die aus dem doppelten Währungssystem entstehenden Spannungen belasten die kubanische Innenpolitik weitaus mehr als politische Einschränkungen, die ausländische Regierungen und politische Gruppierungen immer wieder scharf kritisieren. Trotzdem werden zunehmend auch politische Missstände angesprochen. Seit Raúl Castro im Juli vergangenen Jahres zur Kritik aufrief, sind in Basisorganisationen die Meinungen von mehr als einer Million Menschen zusammengetragen worden. Inwieweit diese Hinweise nun ernst genommen und umgesetzt werden, wird über die Stabilität Kubas entscheiden.

Kritik und Selbstkritik in aller Öffentlichkeit

Zu spüren ist die Aufbruchstimmung allerorten. Vor wenigen Wochen kursierte in Havanna die Videoaufnahme einer Debatte zwischen einem Studenten der örtlichen Informatikuniversität und dem Parlamentspräsidenten Ricardo Alarcón. Der Hochschüler brachte den orthodoxen Politiker mit Fragen in Bedrängnis, die viele Menschen in Kuba bewegen: Weshalb wird die Ausreise erschwert, weshalb der Internetzugang reglementiert, weshalb Kleinunternehmertum behindert? Die Aufnahme spiegelte die neue Diskussionskultur im Land. Aussagekräftig war auch der mediale Umgang mit der Debatte: Nachdem das Digitalvideo zur britischen BBC gelangt war, hieß es auf einmal, der junge Fragesteller sei in Kuba festgenommen worden, was der Student selbst umgehend dementierte. Die Medienlüge machte schlagartig deutlich, wie stark die kubanische Realität im Ausland durch den ideologischen Zerrspiegel wahrgenommen wird. Tatsächlich finden solche Diskussionen schon lange nicht mehr nur spontan statt. Auf der internationalen Buchmesse in Havanna stellten führende Intellektuelle Mitte Februar mehrere Bücher vor, die sich kritisch mit der Kulturpolitik nach 1959 befassen. Die Stellungnahmen führten weit in die politische Sphäre hinein, etwa in der Kritik an der von der Partei kontrollierten Presse. Zugleich stellten die Diskutanten klar, dass es ihnen nicht um einen Systemwechsel geht. Dieser Hinweis richtete sich vor allem auch an die anwesenden Vertreter europäischer Botschaften.

Die Regierung unter Raúl Castro wird auf die wirtschaftlichen Probleme ebenso reagieren müssen wie auf die politischen Fragen. In seiner Antrittsrede zeigte sich der neue Staatschef wohl auch daher selbstkritisch. Schon im vergangenen Jahr hatte er bereits ein "Übermaß an Verboten" kritisiert, das mehr Schaden anrichte als Nutzen bringe. "In den kommenden Wochen nun werden wir die einfachsten dieser Verbote beseitigen", verkündete er. Viele Restriktionen seien "in Momenten des generellen Mangels" erlassen worden, "um die Zunahme neuer Ungleichheit zu verhindern." In der Vergangenheit war unter anderem Kritik an dem Verbot für Staatsbürger geäußert worden, Touristenhotels zu besuchen. Während dadurch in den neunziger Jahren ursprünglich die Prostitution zurückgedrängt werden sollte, liefen Regierungsgegner gegen die "Apartheid" Sturm.