Zwei Staaten - Zwei Lektüren Der israelische Autor Tom Segev hat einen historischen Klassiker zur Gründungszeit des Staates Israel verfasst, der jetzt passend zum 60. Jahrestag Israels ins Deutsche übersetzt wurde. In Israel machte er sich damals viele Feinde damit. Er selbst betrachtet sich als einen der "ersten Historiker", denen es erst nach Öffnung der staatlichen Archive gelang, die Mythen der Staatsgründung zu hinterfragen. Segev bringt kontrastreich die Grautöne zu Tage, mit unzähligen Details, die ein überzeugendes Gesamtbild aus Geschichte und Alltag ergeben. Dabei ist er kein blinder Apologet des jüdischen Staates, sondern benennt deutlich das Problem des blinden Flecks der Israelis - die Palästinenser. Deren 60-Jahres-Historie beginnt mit dem Begriff Al-Nakba, "die Katastrophe". Nach dem arabisch-israelischen Krieg von 1948/49 waren etwa 800000 Palästinenser vertrieben oder geflohen, und Sari Nusseibeh aus alter Jerusalemer Familie erzählt nun die politische Geschichte dieser "Abwesenden". Der Autor war in den "Krieg der Steine" involviert (1. Intifada ab 1987), zu Beginn der Al-Aqsa-Intifada (2. Intifada ab 2000) war er Arafats Statthalter in Jerusalem. Er sei vom israelischen Autor Amoz Oz und seiner Autobiografie fas-ziniert gewesen, vor allem, weil sie ohne Palästinenser auskommt. Ihn habe interessiert, wie das bei ihm ausgesehen hätte. Es kann natürlich nicht funktionieren, denn die Israelis lassen sich aus dem Leben eines Palästinensers nicht wegdenken und umgekehrt. Wer Segevs selbstkritische Geschichte Israels nun mit der ebenso selbstkritischen Perspektive Nusseibehs vergleicht, wird der historischen Frage im Nahen Osten schon eher gerecht und umfassend über beide Seiten informiert.

Martin Zähringer Tom Segev: Die ersten Israelis. Ü.: Dierlamm/ Freundl. Siedler Verlag 2008, 414 S., 24,95 € // Sari Nusseibeh/ A.David: Es war einmal ein Land. Ü.: Gockel/ Förs/ Wollermann, Verlag Antje Kunstmann 2008, 526 S., 24,90 €


Hans Sahl: Wir sind die Letzten, fragt uns aus | Für Hans Sahl war diese Zeile seines bekanntesten Gedichts Programm. Also gefragt, öffnete sich eine Schleuse zur Geschichte des Exils deutschen Geistes. Ein Bruchteil dieser biografischen Geschichten ist hier nun nachzulesen. 1990, da lebte Sahl zum dritten Mal und nur aus Liebe zu seiner Frau in Deutschland. Zuerst, bis 1933, war der 1902 geborene Sohn einer Kaufmannsfamilie eine Kritiker-Koryphäe inmitten der linken Intelligenz der Weimarer Republik. Nach seiner Flucht über Prag, Zürich und Frankreich, wo er als Sekretär des amerikanischen Menschenretters Varian Fry Emigranten außer Landes schleuste, bekam er selber eine der letzten Passagen in die USA. Er schrieb Dramen, übersetzte - und war ein glückloser Lyriker. Materiell ging es ihm schlecht, weil er sich von den Stalinisten distanzierte und als Renegat geschnitten wurde. 1953, wieder in Deutschland, drehte ihm die Gruppe 47 den Rücken zu, er kehrte zurück in die USA. Sahls Abschiedsgedicht aus dem Jahr 1993 endet "...als wär ich nie gewesen oder kaum"!

BAL

LUCHTERHAND VERLAG, 512 S., 21,95 €


Michael Gerard Bauer: Nennt mich nicht Ismael! | Der australische Autor legt nach seinem preisgekrönten Erstling Running Man zum zweiten Mal ein Buch über Außenseiter vor. Nennt mich nicht Ismael! behandelt zum einen die unabsehbaren Folgen "origineller" Vornamenswahl für die betroffenen Kinder. Der Name des jugendlichen Helden Ismael (aus Moby Dick) ist aber nur ein zufälliger Aufhänger für seinen Peiniger Barry. Dieser Klassenkamerad macht ihn tagtäglich zum Opfer, vor allem mit verbaler Gewalt. Da liegt dann auch der Ausweg. Ismael entdeckt - auf schwierigen und peinlichen Wegen - dass er nicht hilflos ist. Er beginnt damit, noch Schwächeren zu helfen, findet Verbündete und lernt im neu gegründeten Debattierclub sein Wort als Waffe zu gebrauchen. Dieses sehr komische und spannende Buch behandelt das Thema Mobbing auf eine originelle Weise. Die Hauptfigur ist zwar nicht fähig, alles Begriffene sofort umzusetzen. Aber Ismael stellt sich der Gewalt entgegen und als er die Möglichkeit der Rache in der Hand hat, verzichtet er darauf.

Klix

HANSER VERLAG, Ü.: UTE MIHR, 304 S., 12,90 €, AB 10 J.


Das Chinesische Dekameron | Die Liebe ist noch immer der tragende Stoff in den Literaturen der Welt, von Ovids Metamorphosen bis zu den Feuchtgebieten unserer Zeit. Aber ob tragisch, komisch oder kitschig, über allen Wipfeln der Liebesliteratur ist Ruh, wenn man wieder mal an ein Original gerät. DasChinesische Dekameron aus der Ming Dynastie ist so eines, und dass es auch bei uns alle paar Jahrzehnte neu herausgegeben wird, zeugt von seiner poetischen Anziehungskraft. Die zehn Geschichten sind etwas jünger als das Decamerone von Boccacchio, verzichten auf schwülstige Erotik ebenso wie auf eine verbindende Rahmenerzählung. Dafür integriert diese Sammlung neben den volkstümlichen Stoffen vom zarten Frühlingserwachen über die verführerische Kurtisane bis zum bitteren Eifersuchtsdrama auch leicht erzählte Schelmenstreiche. Das Buch ist kongenial mit Zeichnungen geschmückt, die Übersetzung schon älter, aus dem Jahr 1968, zeitlos aber entströmt diesen Geschichten die echte Poesie des Eros.

ZÄH

EDITION BÜCHERGILDE, Ü: JOHANNA HERZFELDT. MIT BILDERN VON MEHRDAD ZAERI, GEB., 294 S., 24,90 €