Soziologe Klaus Dörre über Leiharbeit

In Niedersachsen und Bremen sind rund 80000 Leiharbeitnehmer beschäftigt. Von 1995 bis 2006 hat sich die Zahl der Verleihbetriebe auf 2090 mehr als verdoppelt, die Anzahl der Leiharbeitnehmer sogar verdreifacht. Jeder achte Leiharbeitnehmer erhält wegen seines geringen Einkommens als so genannter Aufstocker Arbeitslosengeld II.

Folgende E-Mail eines Leiharbeiters hat der Soziologe Klaus Dörre von der Friedrich-Schiller-Universität Jena seiner Studie über "Leiharbeit" vorangestellt: "Ich bekomme im Vergleich zu meinen Kollegen ein Drittel weniger Lohn, fünf Tage weniger Urlaub, keine Boni, halb so hohe Zuschläge, keine Essenszuschläge, keine Altersvorsorge, keine vermögenswirksamen Leistungen, keine Lohnerhöhungen, keinen Parkplatz und darf nicht an firmeninternen Feiern teilnehmen - und das bei teilweise besserer Qualifikation. Von der psychischen Belastung will ich gar nicht sprechen, diese ist furchtbar, denn man fühlt sich als Mensch 2. Klasse. Wohin soll diese Entwicklung noch führen?"

ver.di PUBLIK | Ist Leiharbeit, neben geringfügiger Beschäftigung, die neue Form von Ausbeutung?

Klaus Dörre | Arbeitsverhältnisse von Leiharbeitern sind potenziell mit erhöhtem Armutsrisiko, kurzem Planungshorizont, Integrationsdefiziten sowie geringeren Identifikations- und Anerkennungschancen verbunden. Leiharbeiter verdienen in der Regel erheblich weniger als fest angestellte Kollegen. 60 Prozent der Leiharbeiter verfügen über ein monatliches Bruttoeinkommen, das 1500 Euro nicht überschreitet. Diese Beschäftigten denken von einem Tag zum nächsten, versuchen über die Runden zu kommen und neigen nicht zum Widerstand. Und das diszipliniert dann auch die anderen Kollegen, die nicht in eine solche Situation geraten wollen.

ver.di PUBLIK | Was können Gewerkschaften wie ver.di überhaupt tun?

Dörre | Für die Gewerkschaften ist es inzwischen ein Fortschritt, dass sie sich überhaupt um prekär Beschäftigte kümmern und Forderungen entwickeln. Denn auch in diesen Bereichen ist es möglich, Formen einer Interessenvertretung zu entwickeln. Man muss aber sehr konkret werden. Leiharbeiter wollen wissen, welche Verleihfirma seriös ist und welche nicht: Wo wird man übers Ohr gehauen, wo kann man sicher sein, dass man Lohn bekommt. Man braucht Anlaufstationen, die solche Informationen liefern. Die italienischen Gewerkschaften versuchen das mit speziellen Dienstleistungsangeboten für Heimarbeiter, Selbstständige und Leiharbeiter. Man muss Formen von Selbstorganisation fördern.

ver.di PUBLIK | Man muss also über neue Formen der Interessenvertretung nachdenken?

Dörre | Richtig. In New York gibt es beispielsweise eine Selbstständigengewerkschaft mit 20000 Mitgliedern, die vor allem in den Medienberufen präsent ist. Die muss natürlich eine ganz andere Form der Interessenvertretung betreiben. Zum Beispiel wird dort gefordert, dass so genannte relationale Arbeit in den Preis des Produkts mit eingeht - also Arbeit, die Freiberufler tun, indem sie Beziehungen pflegen, sich den Markt erschließen, etc.. Diese notwendige, ungeheuer zeitaufwendige, aber bisher unbezahlte Arbeit soll honoriert werden. Dafür kämpft die Gewerkschaft. So eine Interessenvertretung ist überaus wichtig.

ver.di PUBLIK | Die Gesetzgebung hat im großen Stil Leiharbeit erst möglich gemacht. Muss dies zurückgedreht werden?

Dörre | Wenn aus Leiharbeitsplätzen Dauerarbeitsplätze werden und Tarifverträge unterlaufen werden, muss die Bundesregierung sich darüber klar werden, dass der gesellschaftliche Schaden mit Blick auf die Renten- und Pflegekassen nicht mehr zu reparieren sein wird.